Professor Berggruen, wenn Sie heute von der Friedrich-Wilhelms-Universität
zu Berlin hören, was ist Ihre stärkste Erinnerung?
Ich fürchte, da fällt mir nicht viel ein. Nicht nur, weil es
schon lange her ist, sondern, weil es auch eine sehr kurze Zeit war. Ich
war sehr unruhig war, weil ich noch nicht wusste, was genau ich machen
wollte. Die Universität war überlaufen, so wie sie es wohl auch
heute noch oder gerade wieder ist. Und ich hatte meinen Platz noch nicht
gefunden.
Aus diesem Grund streifen diese Zeit in Ihrer Autobiographie wohl
gar nicht?
Sechs Monate sind halt nur eine sehr kurze Übergangszeit.
Wie kam es dazu, dass Sie sich in Germanistik einschrieben? Sie
stammen aus einem eher amusischen Elternhaus.
Ich hatte das Abitur gemacht und wie sich das so in bürgerlichen
Familien gehört, kam nun das Studium. Ich hatte bald das Gefühl,
ich brauchte eine andere Umgebung, um mich so zu schulen, wie ich es beabsichtigte.
Dann bin ich nach Frankreich gegangen. Also, nicht aus politischen Gründen
oder, wie man damals vielleicht gesagt hätte, aus rassischen Gründen.
Ich bin nach Frankreich gegangen, weil ich auf der Schule Französisch
lernte. Ich war auch sehr an französischer Literatur, an Romanistik,
interessiert.
Warum sind Sie nicht schon nach dem Abitur 18-jährig nach Frankreich
gegangen?
Damals war mir noch gar nicht klar, was Universität bedeutet. Das
habe ich dann erst mitbekommen, wie ich mich inscrebiert habe Unter den
Linden bei der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität. Und dann
habe ich aber gemerkt, ich wollte ein größeres, weiteres Feld
als das, was mir da geboten wurde. Die Idee nach Frankreich zu gehen hat
mich stimuliert.
Können Sie sich an das Procedere der Einschreibung
an der Friedrich-Wilhelms-Universität erinnern?
Nichts Feierliches, nur Routine. Man schrieb sich ein, wie man sich für
eine Wahl einschreibt. Es war alles viel zu unpersönlich und viel
zu anonym. Man ging als Individuum dabei unter. Es hatte nichts Individuelles.
Das ist wahrscheinlich recht oft so bei einer großen Universität.
Wie war das Verhältnis zu Ihren Dozenten?
Es war beinahe abstrakt. Das hat wahrscheinlich auch dazu beigetragen,
dass ich so schnell Berlin und die Universität hier verlassen habe.
Es fehlte die Art von Kontakt, nach dem ich mich wohl sehnte und den ich
dann tatsächlich sehr schnell, obwohl als Ausländer mit einer
begrenzten Sprachkenntnis, erfolgreich fand.
Sie gingen nach Frankreich, erst nach Grenoble, dann nach Toulouse.
Ja, das war ein Riesenunterschied. Denn plötzlich waren keine Eltern
mehr da. Ich war auf mich gestellt, aber ich habe sehr schnell gute Kontakte
gefunden, vor allem zu französischen Studenten. Ich hatte neun Jahre
Französisch auf der Schule. Es war nicht aufregend gut, aber es war
doch gut genug. Ich habe eine ganze Clique von Kommilitonen in Toulouse
gehabt, mit denen ich dann zusammen saß und zusammen arbeitete und
zusammen diskutierte. Und zusammen Dummheiten machte.
Aber nach zwei Jahren hat Sie dann Ihre Mutter wieder zurück
geholt nach Berlin.
Richtig. Mein Vater traf mich in Paris, um mit mir ans Meer zu gehen.
Ferien. Und dann fuhr er zurück und ich blieb noch ein bisschen in
Paris und meiner Mutter hat das nicht gepasst. Für die war ich noch
ein Kind, obwohl ich ja da schon 20 Jahre alt war. Sie hat mich zurück
geholt. Sie hat mich richtig zurück geprügelt: So jetzt langt's.
Du treibst dich hier rum, statt ein vernünftiger Mensch zu werden.
Was war denn Ihr Berufsziel?
Ich wollte Journalist werden. Schriftsteller. Eindeutig.
Und das hat Ihrer Mutter nicht gefallen?
Das hätte Ihr schon gefallen. Im Gegenteil. Aber für sie war
Paris ein Sumpf. Sie wollte ihren Sohn nicht in einem Sumpf haben. Ich
hatte einen Vater, der sehr, sehr sanftmütig war und eine höchst
energische Mutter. Das war genau 1934/35 und Hitler war schon an der Macht,
wie man weiß. Aber ich hab das überhaupt nicht ernst genommen.
So wie viele andere jüdische Menschen. Sonst wäre ich ja nicht
zurück gekehrt. Man glaubte eben, dass es ein Spuk sei, der vorbei
geht.
Dann haben Sie die Bücherverbrennung im Mai 1933 auf dem Platz
vor der Universität nicht erlebt?
Genau da war ich nicht da. 1933 war ich in Toulouse und ganz mit der französischen
Literatur befasst und das war alles noch weit weg von mir. Aber dass ich
den Plan hatte, selber in die Literatur einzusteigen und zu schreiben,
Journalist zu werden, das war schon eindeutig. Und das habe ich dann auch
getan, als ich nach Berlin zurück kam. Ich schrieb für die Frankfurter
Zeitung. Ich bin ganz sicher ihr ältester lebender Mitarbeiter. Ich
habe 1935 meine ersten Feuilletons für die FAZ geschrieben, damals
hieß sie Frankfurter Zeitung.
Sie waren bis 1936 in Berlin und haben sich aber dann entschlossen,
in die USA zu gehen.
In dieser Zeit habe ich diese Feuilletons geschrieben. Aber ich merkte,
ich hatte keine Zukunft hier.
Was ist vorgefallen?
Mich hat man nie angegriffen, angespuckt oder was weiß ich. Es war
alles noch vor der Reichskristallnacht. Noch vor der Zeit, zu der, auf
Anregung der Schweizer übrigens, jüdische Menschen einen jüdischen
Vornamen in ihren Pass eintragen mussten, die Frauen Sarah
und die Männer Israel. Ich merkte es, als ich von der
Frankfurter Zeitung hörte, sie würden gerne weiter meine Feuilletons
veröffentlichen, aber nicht unter meinem Namen. Er könnte als
jüdisch interpretiert werden: Berggruen. Sie haben dann die Artikel
tatsächlich nur mit meinen Initialen erscheinen lassen: h.b.. Da
spürte ich, das sind Einschränkungen, auf die ich mich nicht
einlassen möchte. Ich sah einfach keine Zukunft. Ich wollte eine
intensive, schöne Zukunft haben. Und da bin ich besser aufgehoben,
wenn ich weggehe.
Sie haben Ihre Memoiren Hauptweg und Nebenwege genannt.
Nach dem Titel eines Bildes von Paul Klee. Ein Hauptweg war offensichtlich
die Emigration nach Amerika?
So würde ich nicht sagen, nein. Der Hauptweg war die Kunst. In Frankreich
war ich zu sehr mit französischer Literatur befasst. Das Interesse
für die Bildende Kunst kam erst, als ich in Amerika war. Das Ganze
wurde über die Jahre eine Art Besessenheit. Die Beziehung zur Malerei
hat sich ständig verdichtet. Es hat sich so ergeben.
War das ein sinnliches Gefühl oder schon der Intellekt, da
passiert etwas Großartiges?
So kann man es ausdrücken. Es ist ein absolut sinnliches Gefühl.
In San Franzisco habe ich einen großen Freskenmaler kennen gelernt:
Diego Rivera. Die Beziehung zu ihm war für mich sehr wichtig. Ganz
zu schweigen von seiner Frau Frida Kahlo. Das waren Erlebnisse,
die mich sehr in diese Richtung bewegt haben, die bildende Kunst. Das
hat sich dann noch sehr viel stärker entwickelt, als ich durch den
Krieg nach Europa zurück kam und mich in Frankreich etablierte, meiner
damaligen Wahlheimat.
Warum haben Sie nach dem Studium nicht den Weg des Wissenschaftlers
eingeschlagen?
Ich habe keine besondere Begabung, was Wissenschaft betrifft. Keine ausgesprochenen
Kenntnisse, auch keine intensive Neugier. Die Wissenschaft ist eine ferne
Welt für mich. Die Kunst nicht.
Aber die Kunstwissenschaft vielleicht?
Das ist mir dann wieder zu trocken, zu abstrakt, zu theoretisch. Die Beziehung,
die ich zur Kunst habe, ist, um Ihr Wort zu gebrauchen, eine rein sinnliche.
Haben Sie selbst gemalt?
Nein. Ich weiß einfach, dass ich nicht malen kann. Wenn andere das
Bedürfnis haben - es gibt ja so unendlich viele, die das Bedürfnis
haben, sich durch Malerei auszudrücken -, dann sollen sie es tun.
Aber die meisten haben nicht viel zu sagen.
Sie sind während des Zweiten Weltkriegs wieder zurück
gekommen nach Europa als US-Soldat, ähnlich wie Stefan Heym. Wie
haben Sie das Nachkriegsdeutschland erlebt?
Das Nachkriegsdeutschland habe ich noch als amerikanischer Soldat erlebt
in Trümmern. In einem elenden Zustand. Es war kaputt.
Es ist war ein großer Steinbaukasten, der zertrümmert ist, fertig.
Und die geistigen Trümmer?
Da war Verwirrung, Zerstörung, Hilflosigkeit und der Versuch, sich
zurecht zu finden. Es war eine ziemlich traurige Angelegenheit.
1957 haben Sie sich von der Humboldt-Universität eine Studienbescheinigung
ausstellen lassen; wofür?
Ich bekam einen Doctor honoris causa von einer amerikanischen Universität.
Sie hatten mich gebeten haben, alle Papiere zusammenzusuchen, die bezeugen,
dass ich studiert und einen Magister gemacht habe.
War die Berliner Universität für Sie ein Nebenweg?
Ein kleiner Nebenweg. Eine Gasse. Aber jedes Stück spielt eine Rolle,
nicht? Sie war Anregung genug dafür, dass ich dann nach Frankreich
ging, um meine Studien intensiv fortzusetzen.
Im Herbst vergangenen Jahres fand ein Treffen von ehemaligen Studenten
der Berliner Universität statt, die 1933 wegen ihrer jüdischen
Abstammung vertrieben wurden. Warum sind Sie noch einmal auf Tuchfühlung
gegangen mit dieser vergangenen Zeit?
Es war eine sehr noble Geste vom Präsidenten und von der Universität,
denen, die Kommilitonen waren und rausgehen mussten, zu sagen, wir möchten
Sie in Erinnerung an die damalige Zeit einladen und Ihnen sagen, wie sehr
wir es schätzen, dass Sie überhaupt kommen. Ich habe es sehr
gerne gemacht.
Sie haben in diesem Interview mehrfach betont, dass Sie sich an
vieles nicht mehr erinnern. Was macht für Sie das Wechselverhältnis
zwischen Erinnern und Vergessen aus? Wie selektieren Sie Erinnerung?
Zum Teil ist es eine Zeitfrage. Ich erinnere mich ja auch nicht an Vieles,
was in meiner Kindheit passiert ist. Das geht wohl jedem so. Es sind einfach
zu viele Jahre vergangen. Und je näher etwas liegt, was man gemacht
hat, desto deutlicher sind ie Erinnerungen, außer bei dem, was man
unterdrückt hat. Also im Freudschen Sinne unterdrückt, weil
es unangenehme Erfahrungen waren.
Sie sitzen hier auf einem Sofa unter sechs Schwarz-Weiß-Fotografien,
die alle etwas verbindet, Ihre Verehrung für Pablo Picasso?
Richtig. Ja.
Wie
wichtig war Picasso für Ihren Hauptweg
- die Kunst?
Ganz entscheidend. Er hat auf diesem Weg die allergrößte Rolle
gespielt. Wie niemand sonst. Das liegt an zwei Dingen. Erstens sein Werk,
für mich das bedeutendste Werk des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet
der Bildenden Kunst. Und diese überragende starke Persönlichkeit.
Ich hatte die Chance, die Gelegenheit, die Möglichkeit, ihn kennen
zu lernen und eine freundschaftliche Beziehung zu entwickeln. Es ist gerade
eine Biographie herausgekommen, von seinem Enkel Olivier geschrieben,
in dem ich übrigens immer wieder zitiert werde.
Was schätzte denn Picasso an Ihnen ?
An mir? (Lacht.) Jetzt könnte ich die etwas törichte
Antwort geben, da muss man eher ihn fragen. Aber den kann man ja nicht
fragen aus guten Gründen. Ja, ich vermute meine Neugier gefiel Picasso.
Mein echtes Interesse an seinem Werk. Er war von unendlich vielen Leuten
heimgesucht und die meisten hat er gleich wieder weg geschickt. Die hat
er ignoriert, weil er es ganz schnell spürte, dass die einfach nur
eine ganz oberflächliche Bekanntschaft suchten und überhaupt
keine Beziehung zu seinem Werk hatten. Und bei mir muss er wohl von Anfang
an gemerkt haben, dass ich sehr mit seinem Werk vertraut und beschäftigt
war.
Haben Sie ihm Vorträge gehalten?
Nein. Das hätte ihn nur gelangweilt. Picasso hatte einen ungeheuren
Charme, aber er war auch nicht unschwierig. Er war ungeduldig. Er wollte
keine langen Geschichten hören. Er wollte einfach, dass man merkte,
was er machte, worum es ging. Und das mit zwei, drei kleinen Fragen, die
er einem stellte. Beinahe kann man sagen: Fangfragen. Wenn ihm das nicht
gefiel, schickte er die Leute einfach weg: So, jetzt bin ich beschäftigt.
Auf Wiedersehen. Er konnte sehr rücksichtslos sein. Aber ich hatte
das Glück, dass er mich durch und durch akzeptierte.
Welches Bild ist Ihr Lieblingsbild?
Es ist eine bestimmte Epoche, die man die Epoche Dora Maar
nennen kann. Dora Maar, die vor zwei Jahren hochbetagt, kurz vor ihrem
90. Geburtstag, gestorben ist, kannte ich auch gut. Von dieser Epoche
habe ich das Glück eine Reihe schöner Bilder zu besitzen. Es
ist genau ein Porträt von Dora Maar aus dem Jahre 39, das für
mich wahrscheinlich das wichtigste und reizvollste meiner ganzen Sammlung
ist.
Können Sie es in Worte fassen, warum?
Es ist schwierig zu definieren. Es ist alles: der Zusammenklang vieler
Elemente, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten. Das ist eben
ein großer Wurf, was einen nicht loslässt als Bild. Dieses Bild,
das die Dora Maar mit dem gelben Pullover zeigt, es ist das Flaggschiff
unserer Sammlung geworden.
Nehmen wir an, es gibt so etwas wie ein Leben nach dem Tod. Welche
Bilder würden Sie mitnehmen wollen? Das eben Genannte und
ein ganz wichtiges Bild von Paul Klee aus dem Jahr 31 von einer
besonderen Technik, pointillistisch, divisionistisch. Klassische
Küste hat er es genannt. Klee hat seinen Bildern wunderbare
Titel gegeben. Und das ist auch ein großartiges Bild, das ich mitnehmen
würde. Und die Seilspringerin von Matisse. Ich krieg
den Sarg schon voll.
Was bezeichnen Sie denn als den Sinn Ihres Lebens?
Oh, wir steigen jetzt in tiefe Philosophie ein. Ja, der Sinn, etwas aufgebaut
zu haben und ich habe ja meine Sammlung dem Bund geschenkt. Ich werde
nicht mehr da sein, ich bin vergänglich, wir sind alle vergänglich,
aber die Sammlung bleibt. Das ist ein sehr schönes, ein wichtiges
Gefühl. Es ist eine Bereicherung für ein Land, das so zerstört
war. Ein Beitrag in der Hoffnung, dass keine weitere Zerstörung kommt.
Man weiß ja nie.
Was geben Sie jungen Menschen mit auf den Weg?
Was für mich ganz wichtig ist und in großen Buchstaben geschrieben
werden soll, ist Toleranz. Damit richtig umzugehen ist ungeheuer wichtig.
Toleranz und gleichzeitig Bescheidenheit, Demut.
Das Interview führten Jörg Wagner und Heike Zappe.
Fotos: Heike
Zappe
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