Humboldt-Universität zu Berlin

Heinrich Wölfflin

Ordinarius für Kunstgeschichte in Berlin – Pionier der Bildbetrachtung

 

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Heinrich Wölfflin

Heinrich Wölfflin, fotografiert von Rudolf Dührkoop /
UB der Humboldt-Universität zu Berlin

Der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin hatte von 1901 bis 1912 das kunsthistorische Ordinariat an der Berliner Universität inne und entwickelte bis heute gültige formale Analyse- und Beschreibungskategorien zur Bildbetrachtung.

Wölfflin betrachtete das Kunstwerk nach seiner äußeren Form, nach seinem Stil, den er durch die Entwicklung eines kunstgeschichtlichen Vokabulars beschreibbar machte. Er gilt als einer der wichtigsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, weil er der bis dahin vielfach als unwissenschaftlich bezeichneten Kunstgeschichte klare Analysekriterien an die Hand gab und sich nicht scheute, sie mit der Wahrnehmungspsychologie zu verbinden.

 

 

 

 

Werdegang

Er ist am 21. Juni 1864 (Winterthur) geboren und am 19. Juli 1945 (Zürich) gestorben. Er wurde als Sohn einer schweizerischen Patrizierfamilie geboren und wuchs in einem akademischen Haushalt auf, sein Vater war klassischer Philologe und arbeitete als Professor zunächst in Erlangen, dann in München. Heinrich Wölfflin studierte 1882-1886 an der Universität Basel, dann in Berlin und München, Philosophie, Psychologie, Archäologie, Literatur- und Kunstgeschichte.

Zu den ihn prägenden Lehrern gehörte vor allem der Kunst- und Kulturhistoriker Jakob Burckhardt, mit dem er später auch befreundet blieb. Wölfflin wurde 1886 in München promoviert („Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur“) und nur zwei Jahre später daselbst habilitiert („Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien“). Nachdem er 1893 auf den Lehrstuhl Burckhardts in Basel berufen worden war, wechselte er 1901 an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Dort lehrte er bis 1912, bevor er nach München und schließlich nach Zürich wechselte.

Theorem des Sehen-Lernens

1911 wurde Wölfflin in die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgenommen. In seiner Antrittsrede merkte er nicht ohne Befriedigung an, dass er diese Wahl vor allem als Anerkennung des Faches Kunstgeschichte als einer wissenschaftlichen Disziplin sehe, die nun „als gleichberechtigt in den Kreis der älteren historischen und philologischen Fächer“ treten würde. Und in der Tat hatte Wölfflin maßgeblichen Anteil daran, dass die Kunstgeschichte in ihrer Systematik weiter ausgebildet wurde, dass neben die Quellenkritik und die Motivgeschichte der Ikonographie nunmehr auch eine im Anschluss an Burckhardts Stilbegriff entwickelte Formanalyse trat.

Dazu gehörte zunächst das, was Wölfflin das „Theorem des Sehen-Lernens“ nannte, das er sukzessive ausgebildet hatte und das ihm nicht zuletzt als Richtschnur für die Lehre diente. Wölfflin ging es darum, den Aufbau und die Wahrnehmung der sichtbaren Welt zu verstehen, der in der jeweiligen Zeit, der ein Kunstwerk entstammte, immer ein anderer war. Die Aufgabe des Kunsthistorikers bestehe darin, die Sehweisen vergangener Zeiten zu verstehen und zu rekonstruieren. Ähnlich wie seinem Lehrer Burckhardt war es Wölfflin ein Anliegen, Kunst auch im Zusammenhang mit dem zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen und dabei nicht auf Einfühlung in das Werk zu setzen, sondern eine – wie er es nannte – „vollendete Analyse“ anzustreben. Dazu war es unabdingbar, entsprechende Prinzipien zu entwickeln, Analysekategorien, nach denen ein Kunstwerk betrachtet und interpretiert werden konnte.

Kein objektives Sehen

Seine gesammelten Erfahrungen und Forschungen legte Wölfflin schließlich 1915 in dem Buch „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst“ dar, das er intensiv während seiner Zeit in Berlin vorbereitet und mit dessen Niederschrift er hier begonnen hatte. Bereits in der Einleitung macht Wölfflin deutlich, dass es kein objektives Sehen geben könne, vielmehr jedes Individuum, jede Zeit eine eigene Sicht auf die Welt vorantriebe.

Diese – auch heute noch als gültig angesehene – Feststellung führte ihn dennoch dazu, eine der größtmöglichen Objektivität verpflichtende, formale Kunstbetrachtung einzufordern, die auf fünf Begriffspaaren beruhte: Linear/Malerisch, Fläche/Tiefe, Geschlossenheit/Offenheit, Vielheit/Einheit und Klarheit/Unklarheit. Diese Kategorien entwickelte Wölfflin durch seine Stilvergleiche von Werken der Renaissance mit denen des Barocks. Sie haben – gleichwohl heftig diskutiert und kritisiert – in der Kunstgeschichte auch heute noch als Teil der formalen Analyse eines Kunstwerks Bestand. Es ist deshalb nicht uninteressant, dass Wölfflin dabei auf neuere medientechnische Entwicklungen zurückgriff und einer der ersten Kunsthistoriker war, der konsequent die doppelte Diaprojektion zur vergleichenden Betrachtung von Kunstwerken einsetzte.

„Kunstgeschichte ohne Namen“

Anders als sein Vorgänger in Berlin, Hermann Grimm, entwickelte Wölfflin so eine „Kunstgeschichte ohne Namen“, die primär die Formentwicklung in der Kunst und ihre zugrundeliegenden Prinzipien in den Blick nahm und nicht so sehr das einzelne Genie und den künstlerischen Ausdruck. Ungeachtet dieser Hinwendung zu einer weniger personenzentrierten Kunstgeschichte setzte sich Wölfflin aktiv für seine Zeitgenossen – Künstler wie Kollegen – ein: Anlässlich der Einhundertjahrfeier der Universität schlug er die Ehrendoktorwürde für den Maler Max Liebermann vor, die er jedoch nicht durchsetzen konnte: Es hieß, der Kaiser müsse sich durch eine Ehrung Liebermanns düpiert fühlen, denn es war bekannt, dass der Monarch den Naturalismus und Impressionismus Liebermanns nicht schätzte.

Ein Jahr später aber, kurz vor seinem Wechsel nach München, intervenierte Wölfflin erneut zu Gunsten Liebermanns – und dieses Mal gelang es; ebenso wie der Vorschlag, die Nachfolge auf seinem Lehrstuhl mit Adolph Goldschmidt zu besetzen. Auch dieser Vorschlag hatte zunächst mit Schwierigkeiten zu kämpfen, da Goldschmidt ebenso wie Liebermann jüdischen Glaubens war und das Kultusministerium ihm zunächst die Konvertierung zum Christentum nahelegte. Goldschmidt weigerte sich, dennoch konnte die Berufung des berühmten Mittelalterforschers in der Folge durchgesetzt werden und Goldschmidt wurde 1912 der erste jüdische Ordinarius für Kunstgeschichte in Berlin.

Wölfflin, dem in Berlin Adolph Goldschmidt nachgefolgt war, wechselte nun nach München und von dort 1924 an die Universität Zürich, wo er bis 1934 lehrte und schließlich 1945 starb.

Schriften (in Auswahl)
  • Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, München 1888.
  • Die Kunst Albrecht Dürers, München 1905.
  • Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915.
  • Das Erklären von Kunstwerken, Leipzig 1921.
  • Heinrich Wöllflin: Kleine Schriften, hg. von Joseph Gantner, Basel 1946.
  • Heinrich Wölfflin (1864-1945). Autobiographie, Tagebücher, Briefe, hg. v. Joseph Gantner, Basel/Stuttgart 1984.
 Literatur (in Auswahl)
  • Bredekamp, Horst/Adam S. Labuda: Die institutionalisierte Kunstgeschichte 1873-1945, in: Geschichte der Universität Unter den Linden, 1810-2010, hg. von Heinz-Elmar Tenorth, Bd. 5, Berlin 2010, S. 435-458.
  • Burioni, Matteo/Burcu Dogramaci/Ulrich Pfisterer (Hg.): Kunstgeschichten 1915. 100 Jahre Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Passau 2015.
  • Hönes, Hans Christian: Wölfflins Bild-Körper. Ideal und Scheitern kunsthistorischer Anschauung, Zürich 2011.
  • Lurz, Meinhold: Heinrich Wöllflin. Biographie einer Kunsttheorie, Worms 1981.
  • Strauss, Gerhard: Heinrich Wölfflin. Über seine Bedingtheit und seine Bedeutung, in: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin, Bd. 1, Berlin 1960.

 

 

 


 

Heinrich Wölfflin

21st June 1864 (Winterthur) – 19th July 1945 (Zürich)

 

Professor of art history in Berlin – Pioneer in the viewing of images

 

 

Heinrich Wölfflin

Heinrich Wölfflin, photographed by Rudolf Dührkoop /
UB of Humboldt-Universität

The art historian Heinrich Wölfflin held the chair for art history at the University of Berlin from 1901 to 1912 and developed formal categories of analysis and description for the viewing of images that are still applicable today.

He looked upon the work of art in terms of its external form and its style, which he made it possible to describe through the development of a vocabulary of art history. He is regarded as one of the most important art historians of the 20th century, because he provided clear analysis criteria for art history, which, up until then, had often been described as unscientific, and did not shy away from coupling these with perceptual psychology.

 

 

 

 

Career

Wölfflin was born the son of a Swiss patrician family and grew up in an academic household. His father was a classical philologist and worked as a professor, first in Erlangen, then in Munich. Heinrich Wölfflin studied philosophy, psychology, archaeology, literary history and art history at the University of Basel from 1882 to 1886, then in Berlin and Munich. One of his most influential teachers was the art and cultural historian Jakob Burckhardt, with whom he later remained friends.

Wölfflin received his doctorate in 1886 in Munich (“Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur” [“Prolegomena to a Psychology of Architecture”]) and habilitated there only two years later (“Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien” [“Renaissance and Baroque: An Investigation into the Nature and Origin of the Baroque Style in Italy”]. After being appointed to Burckhardt’s chair in Basel in 1893, he moved to the Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin in 1901. He taught there until 1912, before moving to Munich and, finally, to Zurich.

"Theorem of learning to see"

In 1911, Wölfflin was admitted to the Royal Prussian Academy of Sciences in Berlin. In his inaugural address, he remarked, not without satisfaction, that he saw this election, above all, as recognition of the subject of art history as an academic discipline that would now “enter the circle of the older historical and philological subjects on an equal footing”. Indeed, Wölfflin played a decisive role in art history being further developed in terms of its systematics, and in the fact that, alongside source criticism and the thematic history of iconography, a formal analysis now emerged that was developed on the basis of Burckhardt’s concept of style.

This initially included what Wölfflin called the “theorem of learning to see”, which he had formed gradually and which served him not least as a guideline for teaching. Wölfflin was concerned with understanding the construction and perception of the visible world, which were always different for each particular period during which a work of art originated. In his view, the task of the art historian is to understand and reconstruct the ways of seeing of past times. Similar to his teacher Burckhardt, Wölfflin was keen to understand art in the context of contemporary history and, at the same time, not to rely on an empathic response to a work, but to strive for what he called a “complete analysis”. To achieve this, it was indispensable to develop appropriate principles, categories of analysis, according to which a work of art could be viewed and interpreted.

No objective vision

In 1915, Wölfflin published his collected experiences and research in the book Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (Principles of Art History. The Problem of the Development of Style in Later Art), for which he did intensive preparatory work during his time in Berlin, beginning to commit it to writing here. Already in the introduction, Wölfflin makes it clear that there can be no objective vision; rather, each individual advances his or her own view of the world at all times.

This finding – which is still considered valid today – nevertheless led him to call for a formal view of art that compels the greatest possible objectivity based on five pairs of concepts: linear/painterly, plane/recession, closed form/open form, multiplicity/unity and absolute clarity/relative clarity. Wölfflin developed these categories by comparing the styles of works of the Renaissance with those of the Baroque. Although they have been fiercely discussed and critiqued, they have endured to this day in the field of art history as part of the formal analysis of a work of art. It is therefore not uninteresting that Wölfflin drew here on recent developments in media technology and was one of the first art historians to consistently deploy double slide projection for viewing works of art comparatively.

"Art history without names"

Unlike his predecessor in Berlin, Hermann Grimm, Wölfflin thus developed an “art history without names”, which primarily focused on the development of forms in art and the principles underlying this and not so much on individual genius and artistic expression. Despite this turn towards a less person-centric art history, Wölfflin actively championed his contemporaries – artists as well as colleagues: on the occasion of the university’s centenary, he proposed an honorary doctorate for the painter Max Liebermann, though he was not able to push this through. It was said that the emperor must have felt he was being hoodwinked by the notion of an honour for Liebermann, because it was well-known that the monarch did not appreciate Liebermann’s naturalism and impressionism.

However, a year later, shortly before his move to Munich, Wölfflin again intervened on Liebermann’s behalf – and, this time, he succeeded; as did his proposal to appoint Adolph Goldschmidt as his successor in his chair. This suggestion also had to contend with difficulties at first, because Goldschmidt, like Liebermann, was of the Jewish faith, and the Ministry of Education and Cultural Affairs initially suggested he convert to Christianity. Goldschmidt refused, yet the appointment of the famous medievalist was able to be secured subsequently, and Goldschmidt became Berlin’s first Jewish professor of art history with a chair in 1912.

Having been succeeded by Adolph Goldschmidt in Berlin, Wölfflin now moved to Munich and, from there, to the University of Zurich in 1924, where he taught until 1934 and finally died in 1945.

Written works (selection)
  • Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, München 1888 (English: Renaissance and Baroque: An Investigation into the Nature and Origin of the Baroque Style in Italy, London 1964).
  • Die Kunst Albrecht Dürers Munich 1905 (English: The Art of Albrecht Dürer, London 1971).
  • Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915 (English: Principles of Art History. The Problem of the Development of Style in Later Art, New York 1932).
  • Das Erklären von Kunstwerken (Explaining works of art), Leipzig 1921.
  • Heinrich Wöllflin: Kleine Schriften (Collected papers), edited by Joseph Gantner, Basel 1946.
  • Heinrich Wölfflin (1864–1945). Autobiographie, Tagebücher, Briefe (Heinrich Wölfflin [1864–1945]. Autobiography, diaries, letters), edited by Joseph Gantner, Basel/Stuttgart 1984.
 References (selection)
  • Bredekamp, Horst/Adam S. Labuda: Die institutionalisierte Kunstgeschichte 1873–1945, in: Geschichte der Universität Unter den Linden, 1810–2010, edited by Heinz-Elmar Tenorth, vol. 5, Berlin 2010, pp. 435–458.
  • Burioni, Matteo/Burcu Dogramaci/Ulrich Pfisterer (ed.): Kunstgeschichten 1915. 100 Jahre Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Passau 2015.
  • Hönes, Hans Christian: Wölfflins Bild-Körper. Ideal und Scheitern kunsthistorischer Anschauung, Zürich 2011.
  • Lurz, Meinhold: Heinrich Wöllflin. Biographie einer Kunsttheorie, Worms 1981.
  • Strauss, Gerhard: Heinrich Wölfflin. Über seine Bedingtheit und seine Bedeutung, in: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin, Bd. 1, Berlin 1960.

 

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