Humboldt-Universität zu Berlin

Wilhelm Dilthey

Theoretiker der Geisteswissenschaften und des „Verstehens“ als ihrer Methode

 

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Wilhelm Dilthey

Wilhelm Dilthey, Foto: Universitätsbibliothek
der  Humboldt-Universität zu Berlin,
Porträtsammlung

Wilhelm Dilthey wurde 1833 in (Wiesbaden-)Biebrich als Sohn des Oberhofpredigers Maximilian Dilthey geboren, studierte ab 1852 Theologie, Philosophie und Geschichte in Heidelberg und Berlin, legte 1856 das theologische Examen sowie das examen pro facultate docendi ab und war Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin.

1864 wurde er in Berlin mit einer Arbeit über Schleiermachers Ethik promoviert und habilitierte sich im selben Jahr. Nach Professuren in Basel (1867), Kiel (1868) und Breslau (1871) wurde er 1882 an die Berliner Universität berufen und lehrte hier bis 1908 mit großer Breitenwirkung in der Philosophie und in den Humanwissenschaften.

Dilthey ist bis heute ein wesentlicher Bezugsautor für die Frage nach der spezifischen Methode der Geistes- und Kulturwissenschaften.

 

 

 

 

 

 

 

Diltheys Konzept der Philosophie 

Sein Konzept von Philosophie entstand aus der dezidierten Abgrenzung gegen alte Systementwürfe, auch Berliner Provenienz, denn „die Systeme der Metaphysiker sind gefallen“, so die These seiner Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1887. Er habe deswegen „eine Grundlegung der Einzelwissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte begonnen“ (SW V, 11). Ihr neues „Fundament und einen Zusammenhang“ suchte er „in der Erfahrung“, d.h. gemäß der für ihn gültigen Prämisse „der historischen Schule“ von der „Geschichtlichkeit des Menschen und aller gesellschaftlichen Ordnungen“ (ebd.).

Diltheys Werke zeigen, wie er diese neue Gestalt der Philosophie einzulösen suchte, in historisch-biographischen Arbeiten wie das „Leben Schleiermachers“ (1870) oder die „Jugendgeschichte Hegels“ (1906), systematisch z.B. „Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat“ (1875), in der „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883), die den „Aufbau der geschichtlichen Welt“ untersuchen und die „historische Vernunft“ in „Kultur“ und „Weltanschauung“, im gesellschaftlichen „Leben“ und in der Praxis der Individuen zeigen soll. Man erkenne ihre Möglichkeiten, so Dilthey, freilich nur, wenn man nicht der in seiner Zeit zur Dominanz gelangten naturwissenschaftlichen Denkweise folge. Für ihn galt: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“ (V, 144).

Verstehen als Methode

Diese Maxime in seinen „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“, 1894 geschrieben, hat eine langanhaltende Kontroverse ausgelöst. Bis heute wird die Geltung der von Dilthey vermeintlich formulierten strikten Opposition der Methoden problematisiert. Richtig daran ist, dass Dilthey im Begriff des „Verstehens“ seine spezifische Methode, ausgearbeitet in der Hermeneutik, verstanden auch als „Selbstbesinnung“ des „Lebens“, gefunden hat, falsch, dass der Begriff allein die fachspezifische Methodik der Psychologie meint oder einen unkontrolliert-einfühlenden Subjektivismus. In der Trias von „Erlebnis, Ausdruck und Verstehen“ sieht er vielmehr die Möglichkeit, die je spezifische Logik der Praxis von Individuum und Kultur, des „Lebens“ wie der „Weltanschauungen“ und der sich bildenden Kultursysteme, also der „Lebensordnungen von Wirtschaft, Recht, Staat, Herrschaft über die Natur“ im historischen Prozess ihrer Konstitution und Wirkung zu analysieren, ohne dabei Verfahren, die „erklärend“ argumentieren, auszugrenzen. Sie werden vielmehr in distinkte Beziehung zu den theoretischen Grundfragen der Geisteswissenschaften und ihrer Methodik gebracht und genutzt, wenn sie für die Erkenntnis notwendig sind. Insgesamt nimmt deshalb auch seine Philosophie den Anspruch der Tradition auf, Erkenntnistheorie, vor allem der Geisteswissenschaften, Kultur- und Gesellschaftstheorie und praktische Philosophie in den „moralisch-politischen Wissenschaften“ insgesamt zu bearbeiten. Nicht zufällig wird sein Verständnis der Geisteswissenschaften zeitgenössisch in die Tradition der „moral sciences“ gestellt, um ihre spezifische Rolle zu charakterisieren.

Kontroversen

Dilthey machte damit Schule, provozierte nicht etwa nur kritische Kommentare. Die scharfe Kritik an seiner Psychologie allerdings, die Hermann Ebbinghaus, sein ehemaliger Fakultätskollege, aus der Perspektive der experimentellen Psychologen 1896 publizierte, führte dazu, dass Dilthey nicht weiter zu dem Thema veröffentlichte.

Auch seine Abgrenzung der Geisteswissenschaften von der neukantianischen Methodenlehre, Soziologie und Kulturphilosophie wurde in ihrer Triftigkeit und Geltung ebenfalls stark kritisiert. Dabei wird auch die Lebensphilosophie schon zum Problem, der man immer neu Irrationalismus vorgeworfen hat. Auch über die Logik des Verstehens gibt es Kontroversen bis heute. Opponenten sehen z.B. in der Textfixiertheit die ‚hermeneutische Krankheit‘ („morbus hermeneuticus“, so Schnädelbach), während von Hans-Georg Gadamer bis in die französische Philosophie das Verstehen hoch geachtet, ja als Praxis sogar radikalisiert wird. Breitenwirkung, freilich dann immer auch als Anlass für jeweils disziplinspezifische Kontroversen, hat Dilthey über die Philosophie bei Heidegger oder Habermas hinaus in zahlreichen Disziplinen entfaltet: in den Literaturwissenschaften, ausgehend von seiner Studie „Das Erlebnis und die Dichtung“ (1906), mit seinen historischen Arbeiten über die „Weltanschauungen“, die sein Schüler Bernhard Groethuysen kongenial erweitert hat, in einer „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, von seinen Schülern Frischeisen-Köhler und Nohl begründet, und auch in der „verstehenden Psychologie“ z.B. bei Eduard Spranger.

Schriften

Gesammelte Schriften, 26 Bde., Göttingen 1913-2006. 

Literatur (in Auswahl)

  • Lessing, Hans-Ulrich: Wilhelm Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“, Darmstadt 2001.
  • Rodi, Frithjof/Gudrun Kühne-Bertram (Hrsg.): Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie, Göttingen 2008.
  • Rodi, Frithjof: Diltheys Philosophie des Lebenszusammenhangs. Strukturtheorie – Hermeneutik – Anthropologie, Freiburg/München 2016.
  • Gerhardt, Volker/Reinhard Mehring/Jana Rindert: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie, Berlin 1999.

 


Walther Dilthey

19th November 1833 (Biebrich) – 1st October 1911 (Seis am Schlern)

 

Theorist of the human sciences and of “understanding” as their method

 

Wilhelm Dilthey, Foto: Universitätsbibliothek der  Humboldt-Universität zu Berlin, Porträtsammlung
Foto: Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Porträtsammlung: Wilhelm Dilthey
Wilhelm Dilthey was born in Biebrich (Wiesbaden) in 1833, the son of the senior court chaplain (Oberhofprediger) Maximilian Dilthey. He studied theology, philosophy and history in Heidelberg and Berlin from 1852, passed the theological exam as well as the examen pro facultate docendi (to obtain the qualification to teach at secondary schools) in 1856, and was a teacher at the Joachimsthalsches Gymnasium in Berlin. He received his doctorate in Berlin in 1864 with a thesis on Schleiermacher’s ethics, and habilitated (qualified to lecture at university and hold professorial positions) that same year. After professorships in Basel (1867), Kiel (1868) and Breslau (1871), he was then appointed at the University of Berlin in 1882 and taught philosophy and the human sciences here until 1908. To this day, Dilthey is an essential author of reference when it comes to the question of the specific method of the humanities and cultural sciences.

 

 

 

 

 

 

Diltheys Philosophy concept 

Dilthey’s concept of philosophy sprung from a firm demarcation from old system designs, including of Berlin provenance, because “the systems of the metaphysicists ha[d] fallen”, as was the thesis of his inaugural speech at the Prussian Academy of Sciences in 1887. He therefore “began to lay the basis for the individual sciences of man, society and history” (SW V, 11). He sought their new “foundation and a connection […] in experience”, i.e., according to the premise, which he held to be valid, “of the Historical School” of the “historicity of man and of all social orders” (ibid.). His works show how he sought to make use of this new form of philosophy, in historical-biographical writings, such as Leben Schleiermachers (1870; The life of Schleiermacher) or the Jugendgeschichte Hegel (1906; The history of Hegel’s youth), and systematically, e.g., in “Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat” (On the study of the history of the sciences of man, society, and the state; 1875) and Introduction to the Human Sciences (Einleitung in die Geisteswissenschaften; 1883), disciplines which investigate the “construction of the historical world” and are intended to show “historical reason” in “culture” and “worldview”, in social “life” and in the practice of individuals. According to Dilthey, however, one can only realise the possibilities they hold if one does not follow the mode of thinking of the natural sciences that had become dominant in his day. His principle was: “We explain nature; we understand inner life” (V, 144).

Understand as a method

This maxim, in his “Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie” (“Ideas Concerning a Descriptive and Analytic Psychology”), written in 1894, sparked long-lasting controversy. The validity of the strict opposition of methods, supposedly formulated by Dilthey, is problematised to this day. What people are right about is that Dilthey found his specific method, elaborated in hermeneutics and also understood as a “self-reflection” of “life”, in the concept of “understanding”; what is wrongly stated is that the term only intends the methodology specific to the subject of psychology, or an uncontrollably empathetic subjectivism. Rather, in the triad of “experience, expression and understanding”, Dilthey sees the possibility of analysing the specific logic of the practice of individuals and cultures, of “life” and of “world views”, and of evolving cultural systems, that is to say, of the “ways of life of the economy, the law, the state, dominion over nature” in the historical process of their constitution and effect, without thereby excluding methods that argue in an “explanatory” manner. Rather, these are distinctly interrelated with the fundamental theoretical questions of the human sciences and their methodology, and are used when they are necessary for insight. Taken as a whole, his philosophy therefore also takes up the traditional aspiration of working on epistemology – especially of the humanities – cultural and social theory, and practical philosophy altogether within the “moral-political sciences”. It is no coincidence that his understanding of the humanities is placed by contemporaries in the tradition of the “moral sciences”, in order to characterise their specific role.

Controversies

Dilthey caught on in this regard and provoked comment, and not only of a critical nature. However, the fierce criticism of his psychology that was issued, from the perspective of the experimental psychologists, in 1896 by Hermann Ebbinghaus, a former colleague of his in the faculty, led Dilthey to stop publishing on the subject. His distancing of the human sciences from neo-Kantian methodology, sociology and cultural philosophy also drew strong criticism with respect to its soundness and validity. His philosophy of life thereby also becomes a problem, and was always being accused in ever new ways of irrationalism. There are also controversies to this day about the logic of understanding. Opponents, for example, consider his fixation with text to exhibit “hermeneutic disease” (morbus hermeneuticus, according to Schnädelbach), whereas understanding was highly respected, and even radicalised as a practice, by Hans-Georg Gadamer and others, right down to French philosophy. Dilthey had a broad impact in numerous disciplines, beyond just the philosophy of Heidegger or Habermas: in literary studies, emanating from his study Das Erlebnis und die Dichtung (1906; Poetry and Experience), with his historical works on “worldviews” (Weltanschauungen), which his student Bernhard Groethuysen congenially expanded; in a “pedagogy of the human sciences”, founded by his pupils Frischeisen-Köhler and Nohl; and also in interpretive, or “understanding”, psychology (verstehende Psychologie), e.g., with Eduard Spranger.

Written works

Gesammelte Schriften, 26 Bde., Göttingen 1913-2006. 

References (selection)

  • Lessing, Hans-Ulrich: Wilhelm Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“, Darmstadt 2001.
  • Rodi, Frithjof/Gudrun Kühne-Bertram (Hrsg.): Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie, Göttingen 2008.
  • Rodi, Frithjof: Diltheys Philosophie des Lebenszusammenhangs. Strukturtheorie – Hermeneutik – Anthropologie, Freiburg/München 2016.
  • Gerhardt, Volker/Reinhard Mehring/Jana Rindert: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie, Berlin 1999.

 

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