Klassenfragen Folge 3: Ist unser Bildungssystem ein Klassensystem?
Die dritte Folge der Serie „Klassenfragen“ stellt die Frage, ob unser Bildungssystem ein Klassensystem ist. Die Bildungsforscherin Prof. Dr. Rita Nikolai beschäftigt sich am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität mit Schulsystemen und Bildungsungerechtigkeit.
„Wenn die Bourgeoisie ihnen vom Leben so viel lässt, als eben nötig ist, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie ihnen auch nur so viel Bildung gibt, als im Interesse der Bourgeoisie liegt. Und das ist so viel wahrlich nicht.“ Ausführlich beschreibt Friedrich Engels in seinem 1845 erschienenen Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ die mangelhaften Bildungschancen von Kindern aus Arbeiterfamilien: Kinderarbeit, Schulgeld und untaugliche Lehrer verhinderten, so Engels, die geistige und sittliche Bildung der Arbeiterklasse – und damit ihre politische Mündigkeit und gesellschaftliche Emanzipation. Bildung war deshalb traditionell eine zentrale Forderung der Arbeiterklasse.
„Bis in die 1950er und 1960er Jahre unterschieden sich die Bildungschancen der Arbeiterklasse und der höheren Klassen in Deutschland tatsächlich noch sehr stark“, erläutert die Bildungsforscherin Rita Nikolai. Für die meisten Kinder aus Arbeiterfamilien sei die Bildungskarriere nach acht Jahren Volksschule zu Ende gewesen. Höhere Klassen schickten ihre Kinder dagegen zumeist auf das Gymnasium. „In den meisten Bundesländern wurde das Schulgeld für Gymnasien erst in den 1950er Jahren abgeschafft. Bildungschancen waren also immer davon abhängig, was der Geldbeutel der Eltern hergab.“
„Bildungspolitik ist Interessenpolitik“
Rita Nikolai ist Heisenberg-Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität. Sie beschäftigt sich mit dem institutionellen Wandel von Schulsystemen und bringt dabei politische Aspekte mit erziehungswissenschaftlichen zusammen. „Bildungspolitik ist Interessenpolitik“, sagt sie. „Deshalb stelle ich mir immer die Frage, welche Interessengruppen sich bei bildungspolitischen Entscheidungen durchsetzen können und wie sich Veränderungen im Schulsystem auf Bildungsungleichheiten auswirken.“ Mit dem Blick auf 200 Jahre Schulgeschichte sagt Nikolai: „Es ist eine Mär, dass in hochselektiven Schulsystemen die Besten gefördert werden. Gefördert werden diejenigen, die sich am besten durchsetzen können. Und das sind immer Familien aus höheren sozialen Schichten.“
Heute können es scheinbar individuelle Entscheidungen sein, die sich im Verlauf einer Bildungskarriere summieren. Kinder aus „besserem Hause“ bekommen zum Ende der Grundschulzeit zum Beispiel häufiger die Empfehlung für das Gymnasium – und falls nicht, setzen sich ihre Eltern häufiger über Empfehlungen der Lehrperson hinweg. Es seien aber auch die großen politischen Weichenstellungen, bei denen die höheren sozialen Schichten sich stets durchsetzen, so Nikolai. „Sie wissen einfach, wie man Kampagnen führt und politischen Druck ausübt.“ Als Beispiel nennt sie die Hamburger Primarschulreform, die 2010 an einem Volksentscheid scheiterte. „Wahlkreise mit hohem Haushaltseinkommen waren sehr aktiv gegen eine Verlängerung der Grundschulzeit, in sozial schwachen Kreisen gab es kaum Wahlbeteiligung.“
„Die Klassengrenzen sind aufgeweicht“
Ziel der Reform war eine Ausweitung der Grundschulzeit in Hamburg von vier auf sechs Jahre. Eine Forderung, die aus Sicht vieler Bildungsforscherinnen und -forscher tatsächlich zentral wäre, um das deutsche Bildungssystem gerechter zu machen. „Der Zeitpunkt, an dem Eltern über die Zukunft ihrer Kinder entscheiden müssen, ist einfach zu früh“, sagt Nikolai. Internationale Vergleiche zeigen, dass Schulsysteme, in denen die Jugendlichen länger als in Deutschland gemeinsam lernen, sozial durchlässiger sind. Das heißt: Schülerinnen und Schüler haben dort bessere Chancen, einen Lebensweg zu wählen, der ihrer Begabung entspricht – und nicht ihrer sozialen Herkunft.
Um die soziale Herkunft wissenschaftlich zu erfassen sei der Begriff der Klasse heute allerdings nicht mehr hilfreich, sagt Rita Nikolai. „Die Klassengrenzen sind aufgeweicht. Bildungsnahe und bildungsferne, sozio-ökonomisch starke und schwache Schichten überlappen sich.“ Sinnvoll sei eine Kombination von Faktoren, wie sie beispielsweise der ESCS-Index (Index of economic, social and cultural status) der Pisa-Studie erfasse. Er berücksichtigt auch, wie viele Bücher oder Kunstwerke die Familie besitzt und ob es einen Internetzugang gibt.
Die Schülerschaft spiegelt idealerweise alle Gruppen der Gesellschaft
Rita Nikolai verwendet einen plakativen Vergleich, um deutlich zu machen, wer im deutschen Bildungssystem besonders benachteiligt ist: „Früher vereinte das katholische Arbeitermädchen vom Lande alle schlechten Bildungschancen auf sich. Heute ist es der Migrantensohn in der Großstadt.“ Ungleichheit beginne bereits in den Kindergärten und Grundschulen, wenn diese in sozial schwächeren Wohnvierteln schlechter ausgestattet seien. Und sie sei auch dann nicht überwunden, wenn junge Menschen es trotz schlechterer Ausgangssituation schließlich an die Universität schaffen. „Das Wissen, wie ich ein Studium finanziell überlebe, wie ich mit Dozenten umgehe, welche Rechte ich als Studierende habe und wie ich sie einfordere – das müssen sich Menschen aus bildungsfernen oder sozial schwächeren Schichten erst mühsam erarbeiten.“ Die Arbeit von Organisationen wie „Arbeiterkind“ oder „firstgen“ sei für den Ausgleich von Bildungsungerechtigkeiten deshalb sehr wichtig.
Aktuell beschäftigt Rita Nikolai der große Zulauf an Privatschulen. Besonders bei den Grundschulen sei der Anteil privater Schulen zwischen 1990 und 2016 um 345 Prozent gestiegen, erläutert sie. Die Gründe, warum Eltern sich gegen eine öffentliche Grundschule entscheiden, seien vielfältig. Beunruhigend sei jedoch, wenn Eltern glauben, dass Privatschulen generell eine bessere Bildung anböten und es eine bessere Passung zum elterlichen Milieu gebe. Wenn beispielsweise konfessionelle Schulen gewählt würden, um sicherzugehen, dass es in den Klassen keine muslimischen Schülerinnen und Schüler gibt.
Idealerweise spiegele eine Schülerschaft alle Gruppen der Gesellschaft, sagt Nikolai. Dies würde die Gleichheit der Bildungschancen für alle Kinder deutlich erhöhen. Aus lernpsychologischer Sicht würden zudem die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern nicht in homogenen Klassen am besten gefördert, sondern in heterogenen: „Es geht ja nicht nur um Lesen, Schreiben oder Rechnen. Kinder müssen auch Empathie lernen. Und das Wissen, wie sie mit Menschen umgehen, die nicht über dieselben Ressourcen verfügen.“
Autorin: Stefanie Hardick
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