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Erkundungen in der ostdeutschen Heimat

Das Sommerthema 2019 widmet sich der Frage "Wie wollen wir zusammen leben?" Wir stellen Forscherinnen und Forscher vor, führen Interviews und suchen Antworten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, u.a. soziologisch, ethnologisch, wirtschaftswissenschaftlich und naturwissenschaftlich. In Folge 2 spricht der Soziologe Steffen Mau über das schwache Band zwischen der allgemeinen Bevölkerung und den Menschen in gesellschaftlichen Spitzenpositionen in Ostdeutschland.

Steffen Mau im Hörsaal
Prof. Dr. Steffen Mau in einer Interviewsituation. Foto: Martin Ibold

Gerade ist „Lütten Klein“, das neue Buch des Soziologen Steffen Mau im Suhrkamp Verlag, erschienen. Der Titel bezieht sich auf das gleichnamige Rostocker Neubauviertel, in dem Mau aufgewachsen ist. Er analysiert aus soziologischer Sicht Veränderungen und Kontinuitäten seiner Heimat und Ostdeutschlands insgesamt – seit den Siebzigerjahren bis heute. Professor Dr. Steffen Mau leitet den Lehr- und Forschungsbereich Makrosoziologie an der Humboldt Universität.

 

Herr Professor Mau, worum geht es in „Lütten Klein“?

In dem Buch geht es um die Transformation der DDR und der ostdeutschen Gesellschaft seit Anfang der Siebzigerjahre bis heute. Ich versuche zu erkunden, was die Gesellschaft von damals und heute ausmacht, welche Umbrüche sie erlebt hat, welchen Konflikten und Fliehkräften sie ausgesetzt ist. Mir geht es darum zwei Perspektiven miteinander zu verbinden: einerseits den Blick auf sozialstrukturelle Veränderungen, also Fragen der Schichtung der Gesellschaft, der sozialen Mobilität und der Demografie sowie andererseits die Perspektive auf die mentale Lagerung und auch das kulturelle Gepäck dieser Gesellschaft.

Wie haben Sie geforscht?

Das ist etwas ungewöhnlich. Ich habe Mosaiksteinchen von vorhandenen Forschungen mit eigenen Befunden und Einsichten verbunden und zugleich versucht, das Buch lebendig und anschaulich zu machen. Das Buch heißt „Lütten Klein“ – betitelt nach dem Ort, in dem ich selber aufgewachsen bin und fast 20 Jahre meines Lebens verbracht habe. Das ist ein – mit damals fast 40.000 Einwohnern – großes Neubauviertel in Rostock. Dort bin ich hingegangen und habe mich mit Leuten unterhalten, die die ganze Zeit dort gelebt haben, aber auch mit neu Zugezogenen und mit Personen, die von dort weggegangen sind. Ich wollte ergründen: Was macht das Spezifische des Lebens in der DDR und im Speziellen dieses Wohnviertels aus? Wie hat sich dies verändert? Wie lebt man heute dort? Das beziehe ich dann immer auf die Veränderungen in Ostdeutschland insgesamt.

Einerseits war das ein Blick in die eigene Vergangenheit, andererseits die distanzierte Perspektive eines Soziologen. Was ist Ihnen aufgefallen?

Es gab bei mir immer diese doppelte Erfahrung, dass vieles von dem Ort und dem, was das Leben dort ausmacht, sehr vertraut ist – und andererseits natürlich, dass es sich sehr verändert hat, fremder geworden ist. Diese Neubauviertel haben eine unruhige Geschichte durchgemacht. Sie sind konzipiert worden, um neue sozialistische Lebensformen mit einer sehr starken sozialstrukturellen Durchmischung und zugleich einer Vereinheitlichung zu etablieren. In den Neunzigerjahren sind diese Viertel in der gesellschaftlichen Anerkennung stark deklassiert worden. Trotzdem sind viele Menschen dort wohnen geblieben und identifizieren sich mit dem Wohngebiet. Heute sind das arrivierte Ältere, „Normalbürger“, aber auch viele, die von Hartz-IV-Bezug leben, und eine kleinere Gruppe von Migranten und Asylbewerbern. Es ist spannend, sich die Lebensgeschichten der Bewohner erzählen zu lassen – auch mit den biografischen Zäsuren der Neunzigerjahre, der Veränderung des Selbstbildes und des gesamten sozialen Umfeldes. Man sieht, dass Klein Lütten heute ein Viertel ist, in dem eine Art von Normalität herrscht und das nicht nur nach unten abrutscht. Aber man sieht auch, dass viele Leute über 15 oder 20 Jahre intensiv kämpfen mussten, um überhaupt wieder Boden unter den Füßen zu spüren und sich gesellschaftlich zu etablieren. In den Lebensbilanzen gibt es eine überraschende Mischung aus Zufriedenheit und Enttäuschung, aus Mitmachen und Distanz.

Im Klappentext heißt es, dass heute spürbare gesellschaftliche Spaltungen ihren Ursprung schon in der DDR hatten. Was bedeutet das?

Ich benutze den Begriff der gesellschaftlichen Frakturen, um meine Beobachtungen der ostdeutschen Gesellschaft zu bündeln. Dieser beschreibt Brüche, die wohl noch über lange Zeit die gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit und Dynamik beeinträchtigen werden. Das erkennt man am Wegzug – sowohl vor dem Fall der Mauer durch die Ausreisebewegungen, als auch danach durch die Probleme bei der Arbeitsplatzsuche und die starke Abwanderung in den Westen. Viele der Älteren in Klein Lütten haben Kinder oder Enkel, die jetzt in Hamburg oder Stuttgart leben. Man sieht aber auch, dass die DDR zum Ende hin eine mobilitätsblockierte Gesellschaft mit wenigen Aufstiegschancen für die jüngeren Kohorten war. Die DDR ist vermutlich eines der wenigen industrialisierten Länder gewesen, die den Zugang zum Hochschulstudium mit der Zeit verknappten – sodass Ende der Achtzigerjahre pro Jahrgang nur halb so viele auf eine Hochschule gegangen sind wie in der Bundesrepublik. Man könnte denken: Dann kommt die Wende und diese Mobilitätsblockade ist aufgelöst, weil es nun freie Berufs- und Studienplatzwahl gibt, mehr Chancen da sind. Jetzt stürmen alle auf bessere Positionen. Aber das Gegenteil ist eingetreten – vor allem für die ostdeutschen Männer. Viele konnten ihre Position nicht halten – und auch nicht die Position erreichen, die ihre Elterngeneration einnahm. Es hat keine durch die Systemveränderung ausgelöste Aufwärtsbewegung gegeben, stattdessen massenhaft soziale Abstiege. So kann man in dieser längeren zeitlichen Perspektive, die ich mir angucke, davon reden, dass Ostdeutschland Westdeutschland „unterschichtet“ hat und es heute noch tut.

Haben Sie durch Ihre Analysen Ideen bekommen, wie man diese Frakturen kitten könnte?

Das ist ganz schwierig, denn sie sind sozialstruktureller Art. Man müsste sich überlegen, wie man sowohl die demographische Situation als auch die Ungleichheitsverteilung an Ressourcen und gesellschaftlichen Positionen angehen kann – zum Beispiel durch mehr Unterstützung für Ostdeutsche, die Teil der gesellschaftlichen Elite werden wollen. Das Band zwischen der allgemeinen Bevölkerung und den Menschen in gesellschaftlichen Spitzenpositionen ist sehr schwach. Es gibt auch wenig politisches oder zivilgesellschaftliches Engagement im Osten. Das sind alles langfristige Folgen des Vereinigungsprozesses, der sehr stark auf das Ökonomische gesetzt hat, zudem mit einer starken Dominanz der westdeutschen Akteure einhergegangen ist und die Ostdeutschen zu wenig gefordert und zu wenig unterstützt hat. Die Vorstellung Privatisierung und Vermarktlichung werden es richten, war schlichtweg naiv.

An wen richtet sich das Buch?

Ich versuche meine soziologischen Werkzeuge, Befunde und Kenntnisse auf eine Art und Weise zu transportieren, die für einen breiteren Leserkreis zugänglich ist, ohne dass ich Kompromisse bei den fachlichen Thesen machen muss. Schöne und aufschlussreiche Fotos aus der ganzen Zeit haben wir auch gefunden und genutzt. Ich glaube, dass eine weitergehende und kritische Analyse der DDR und der ostdeutschen Gesellschaft inklusive der Wiedervereinigung bisher noch fehlt. Die Diskussionen, die wir haben, kreisen häufig um Anerkennungsfragen und die Forderung, man müsse einander zuhören. Da würde ich entgegensetzen, dass die gesellschaftlichen Frakturen viel tiefer gehen und eben struktureller Natur sind. Deswegen ist es auch so unglaublich schwer, mit ihnen umzugehen und sie abzubauen.

Interview: Inga Dreyer

Sommerthema 2019: Wie wollen wir zusammen leben?

Folge 1 mit der Ethnologin Prof. Dr. Silvy Chakalakkal: "Ich gehe davon aus, dass Zeit nicht einfach da ist."