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Rausgehen, fragen, zuhören

Beim Forschungsprojekt „Leben und Alltag in ländlichen Räumen“ haben Bachelor-Studierende im Feldversuch neue Erkenntnisse gesammelt. Auf einer Tagung werden diese nun präsentiert – um die Debatte über vernachlässigte Lebensräume voranzubringen.

„Fremde Leute anzusprechen und zu befragen, war im Studium etwas völlig Neues“, sagt Anne-Sophie Rebner. „Die Leute wussten zwar, dass wir für ein paar Tage bei Ihnen im Ort sind und sie vielleicht auch ansprechen werden, aber trotzdem muss man in der konkreten Situation ja erstmal das Eis brechen.“ Die Bachelor-Studentin, im derzeit 7. Semester Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU), war vor knapp einem Jahr auf Exkursion in Mecklenburg. „Leben und Alltag in ländlichen Räumen“, ein forschungsorientiertes Vertiefungsseminar, hatte sie und 27 weitere Studierende dorthin geführt. Das Konzept: Was man sich an der Uni im theoretischen Rahmen erarbeitet hat, kann durch empirische Erhebungen in der Praxis überprüft und weiterentwickelt werden. Also: rausgehen und mit Menschen reden.

Über wen sprechen wir eigentlich, wenn wir vom ländlichen Raum reden? Welche Menschen begegnen uns dort – mit welchen Interessen, Gemeinsamkeiten und Unterschieden? „Diese Fragen standen am Anfang des Seminars“, erläutert Daniel Kubiak. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der HU ist einer der Initiatoren und Dozenten des Forschungsprojekts, das in Kooperation mit der Universität Rostock und der Bundeszentrale für politische Bildung initiiert wurde. Ein Dorf mit gut hundert Einwohnern und zwei benachbarte Gemeinden wurden als Untersuchungsobjekte auserkoren. Die konkrete Wahl, ungefähr auf halbem Weg zwischen Berlin und Rostock, war auch davon geleitet, wo man für die Studierenden und Dozenten eine Unterkunft findet. „Wir suchten vor allem einen Ort, der repräsentativ ist für ländliche Räume in Deutschland, in denen immer weniger Menschen leben“, so Kubiak. „Solche Regionen werden in Debatten über Alltagskultur und Lebensräume bislang zu wenig wahrgenommen, dies zu ändern, ist auch Aufgabe der Wissenschaft.“

Im Vorfeld des Besuchs auf dem Land definierten die Studierenden aus Rostock und Berlin zunächst relevante Themenfelder, zu denen sie dann Fragestellungen erarbeiteten. Im Fokus stand etwa die Dorfgemeinschaft: Wer sind Etablierte und Außenseiter, wie leben Jugendliche dort? Infrastruktur stand ebenfalls im Fokus: Kneipe, Post oder Friseur gibt es dort nicht mehr. Welche Rolle spielt das Internet? In diesem Zusammenhang stellten sich auch viele Fragen zur Mobilität. Und weil man ja auf dem Land ist: Wie steht es um Ökologie und landwirtschaftliche Selbstversorgung? Je zwei Studierende zogen los, um Interviews zu den Themen zu führen. Die Dorfbewohner waren schon vorgewarnt: Bei einer Einführungsveranstaltung vor Ort stellten sich die Rostocker und Berliner samt ihrem Projekt vor. Außerdem hatte der Ortsvorsteher Info-Flyer in jeden Briefkasten geworfen.

Der direkte Kontakt war ein wenig dem Zufall überlassen: „Wir kamen zum Beispiel an einem Garten vorbei und sprachen den dort arbeitenden Mann an“, erinnert Rebner sich. „Die meisten waren sehr aufgeschlossen, sie haben unsere Fragen bereitwillig und ausführlich beantwortet.“ Ein Interview habe über drei Stunden gedauert. Die Gespräche wurden zum Teil sehr persönlich. Wendeerfahrungen standen stark im Fokus der Befragten. Einige verwiesen auf die enge Gemeinschaft zu DDR-Zeiten, andere hatten dies als Zwang empfunden.

Die Ergebnisse des Projekts werden nun auf einem Workshop präsentiert. Fünf der HU-Studierenden halten dort Vorträge, die Diskussionen anzustoßen sollen. „Wir wollen die Erkenntnisse der Studierenden in einen breiteren fachlichen Kontext stellen“, sagt Kubiak. Denn kaum haben die Studierenden nach der Exkursion aufs Dorf ihre Antworten aufgearbeitet, ergeben sich daraus die nächsten interessanten Fragen: Gibt es jenseits des Prekären oder der Heimat als romantischem Sehnsuchtsort einen unverstellten Blick auf die Chancen und Risiken eines Lebens jenseits der urbanen Regionen? Eröffnen sich im ländlichen Raum Nischen und Freiräume, die zur Erprobung von neuen Formen des Wirtschaftens einladen, etwa in einer Postwachstumsgesellschaft? Zeit, für die nächste Landpartie.

Autor: Von Lars Klaaßen

Weitere Informationen

Die Tagung „Leben und Alltag in ländlichen Räumen“ findet vom 27. März bis zum 29. März 2019 im Arno-Esch Hörsaal der Universität Rostock statt.

Programm der Tagung

Kontakt

Daniel Kubiak, Institut für Sozialwissenschaften
daniel.kubiak@hu-berlin.de

Dr. Leonore Scholze-Irrlitz, Institut für Europäische Ethnologie
leonore.scholze-irrlitz@rz.hu-berlin.de