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„Nirgends sonst konnte man so gut verdienen wie hier“

In einem Oral-History-Projekt berichten Menschen von ihrem Arbeitsleben beim Uran-Produzenten Wismut / Zeitzeug:innen werden gesucht

Foto: Bundesarchiv (Schlegel)
Karl-Heinz Gründel sitzt auf einem Sofa im heimischen Wohnzimmer, auf dem Tisch vor ihm liegt seine Wismut-Kaderakte. Er überlegt einen Moment, ob er vor laufender Kamera Dr. Astrid Mignon Kirchhof eine kleine Anekdote aus seinem Berufsleben erzählen soll. Dann berichtet er mit einem Schmunzeln, wie er nach einer Havarie im Bergwerk kurzerhand eine Rolle Fahnenstoff für das Nähen von Fußlappen für die Bergleute zweckentfremden ließ. Das hatte Konsequenzen. „Am nächsten Tag musste ich zur Kommission, da hielt mir einer den roten Fußlappen unter die Nase. Das war ein politisches Dilemma. Da wurde ich schlecht bewertet.“ Gründel, Jahrgang 1936, war seit den 1950er-Jahren während seiner gesamten beruflichen Laufbahn bei der Wismut SDAG beschäftigt –erfolgreich. Erst wurde er als Elektriker ausgebildet, später qualifizierte er sich zum Elektroingenieur.

In einem Oral-History-Projekt, dem „Wismut-Zeitzeugen-Projekt“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig in Kooperation mit der Humboldt-Universität werden etwa 50 Teilnehmende, die im Wismut-Komplex gearbeitet haben, noch dort arbeiten oder von diesem geprägt wurden, zu ihrer Biographie, zum Betrieb der Wismut sowie zu ihren Erfahrungen in der Umbruch- und Sanierungszeit befragt. Dr. Astrid Mignon Kirchhof, Historikerin im Bereich Neueste und Zeitgeschichte der HU, leitet das Projekt. Sie und fünf Kolleg:innen interviewen Personen aller Altersgruppen und verschiedener Wismut-Berufssparten und zeichnen es per Video auf – wenn es die Pandemie erlaubt. Auch einige russische Zeitzeug:innen werden im Projekt befragt.

Trotz Strahlengefahr ein attraktiver Arbeitgeber

Das Bergbauunternehmen SDAG Wismut, die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft, war in Sachsen und Thüringen angesiedelt. Hier wurde zwischen 1946 und 1990 Uran abgebaut, das Unternehmen war viertgrößter Uran-Produzent weltweit. Bis zum Ende der DDR produzierte etwa eine halbe Million Menschen bei der Wismut 231.000 Tonnen angereichertes Uran. Das geförderte und aufbereitete Uran war die Rohstoffbasis der sowjetischen Atomindustrie.

„Die Wismut entwickelte sich so zu einem Staat im Staat, nirgends sonst konnte man so gut verdienen wie hier“, erklärt Projektleiterin Kirchhof. „Aber auch die Gefahren, die von der Strahlung und der Staubentwicklung ausgingen, waren bekannt. Nach Einstellung der Produktion 1990 wurde eine der größten Umweltkatastrophen der Erde offensichtlich, in deren Sanierung die Bundesrepublik bis heute 6,2 Milliarden Euro investierte.“

Die Zeitzeug:innen zeichnen zumeist ein positives Bild von ihrer Arbeit bei der Wismut. Das Auskommen war gut und wog in ihren Augen Nachteile wie gesundheitliche Belastungen und schwierige Arbeitsbedingungen unter Tage auf. „Auf unsere Aufrufe melden sich meist Menschen, die ein positives Bild von sich selbst und ihrem Leben haben und auch nach der Wende gut angekommen sind im neuen System, was nicht heißt, dass sie keine Brüche erlebt haben“, erklärt Kirchhof. Wofür das Uran genutzt wurde, interessierte die Wenigsten. Bis Mitte der 1950er Jahre gab es keinen Strahlenschutz. Den Preis zahlte vor allem die erste Generation der Wismut-Bergleute. Bis 1989 wurde bei rund 15.000 von ihnen Silikose und bei 5.300 Lungenkrebs als Berufskrankheit anerkannt.

Mit dem „Wismut-Zeitzeug-Projekt“ soll exklusives Wissen zu Tage gefördert werden. Die Interviews, an denen ehemaligen Bergbauleute, aber auch Handwerker, Pädagog:innen, Gesundheitspersonal, Künstler:innen und Akademiker:innen mitwirken, sollen in ein digitales, interaktives Forschungsportal inklusive einer Mediathek einfließen und für Forschende und Interessierte zugänglich sein.

„Die Interviewten werden durch offene Fragen dazu angeregt, frei zu erzählen. Erinnerungsstücke wie Fotografien, Orden und Kleidungsstücke können standardisierte Interviews aufbrechen und zusätzlich Erinnerungen, Geschichten und Emotionen hervorrufen – wie die Kaderakte, die Herr Gründel uns zeigte“, erklärt Astrid Mignon Kichhof. Die Interviews, die Anfang 2020 angefangen haben, wurden durch die Corona-Pandemie ausgebremst. „Wir waren im ersten Moment verzweifelt, als wir nicht reisen durften“, erinnert sich die Forscherin. Aber die meist betagten Interviewpartner:innen haben sich ohne Probleme auf neue, digitale Kommunikationsplattformen eingelassen. Oder die Beteiligten füllen Steckbriefe aus, die die Forschenden ihnen zuschicken. 

Konferenz im April soll weitere Wismut-Erbe-Projekte finden

Zur Projektentstehung: Die Länder Sachsen und Thüringen und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie finanzieren das Projekt und haben gemeinsam der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig die Aufgabe übertragen, multidisziplinäre Forschungen für das Wismut-Erbe zu sondieren und zu konzipieren. Die Wismut GmbH unterstützt und begleitet das Projekt. Das Teilprojekt A ist in Dresden und Leipzig angesiedelt und als sogenanntes Vorprojekt zur inhaltlichen und methodischen Konzeptionierung sowie zum Aufbau eines digitalen Forschungsportals „Wismut-Erbe“ verantwortlich. Das Teilprojekt B ist das beschriebene Oral-History-Projekt. Münden wird das Vorprojekt am 29. April 2021 in einer Konferenz zur Themenfindung für weitere Wismut-Erbe-Forschungsprojekte.

Autorin: Ljiljana Nikolic

Zeitzeug:innen werden noch gesucht

Es werden auch noch Zeitzeug:innen gesucht, beispielsweise solche, die schlechte Erfahrungen mit der Wismut gemacht haben, schwer krank wurden und nicht entschädigt wurden. Von Interesse sind auch Zeitzeug:innen, die dem Uranbergbau kritisch gegenüber standen, die Region verlassen haben oder verlassen mussten.

Weitere Informationen

Blog zum Wismut-Zeitzeugen-Projekt – Urangeschichten der Wismut S(D)AG – Erinnerungen an den größten Bergbaubetrieb der DDR

Kontakt

Dr. Astrid Mignon Kichhof

E-Mail: astrid.m.kirchhof@hu-berlin.de

Telefon: (030)2093-70853

 

Anna-Katharina Pelkner (für Zeitzeug:innen)

E-Mail: pelkner@saw-leipzig.de

Telefon: (030) 2093-70853