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Schwarmintelligenz – Die kollektive Klugheit der Anglerinnen und Angler

Neue Studie zeigt: Traditionelles ökologisches Wissen kann dem wissenschaftlichen entsprechen

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Foto: Matthias Heyde

Fische sind in der Gruppe schlauer als einzelne Tiere. Aber wie sieht es mit Anglerinnen und Anglern aus? Gibt es auch bei Ihnen so etwas wie Schwarm- oder kollektive Intelligenz? Ein internationales Team um Professor Robert Arlinghaus zeigt in einer Studie: Verschiedene Gruppen von Anglerinnen und Anglern sind gemeinsam genau so klug wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ihr Wissen um die ökologischen Faktoren, die Hechtbestände beeinflussen, entspricht aktuellen Forschungserkenntnissen. Die von einem transdisziplinären Team entwickelte Methode bestätigt: Die Gesellschaft kann von Projekten im Bereich der Citizen Science profitieren.

Robert Arlinghaus ist Professor für Integratives Fischereimanagement am Albrecht Daniel Thaer - Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften der Humboldt-Universität und am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Die Studie wurde in der Fachpublikation Nature Sustainability veröffentlicht.

Herr Professor Arlinghaus, warum ist es interessant, das Wissen von Anglerinnen und Anglern mit dem Wissen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu vergleichen?

Das ist deswegen interessant, weil über dieses traditionelle ökologische Wissen sehr viel geredet wird. Es herrscht die Annahme, dass sich Praktikerinnen und Praktiker über ihre Erfahrungen dem, was in der Natur passiert, sehr gut nähern. Um diese Annahme auf eine vergleichbare, quantitative Ebene zu führen, haben wir dieses Experiment gemacht. Wir wollten schauen: Wie ähnlich oder unähnlich denkt eine Gruppe von Naturnutzerinnen und -nutzern verglichen mit dem Fachwissen zum selben Themenkomplex? Das sollte dazu dienen, die Qualität dieses ökologischen Wissens zu evaluieren, um dann im zweiten Schritt auch eine Anwendung zu liefern.

Das Ergebnis zeigt, dass sich die Wissensbestände sehr ähneln. War das überraschend?

Ja, es war schon überraschend – weil es nicht ganz so einfach ist. Die klassische Idee dieser „Wisdom of the Crowd“ oder der „Weisheit der vielen“ lautet folgendermaßen: Wenn Menschen unabhängig voneinander einen Gegenstand bewerten oder eine Meinung artikulieren, kommt das Mittel ihrer Schätzungen der Wahrheit sehr nahe. Wir dachten, dass das auch bei den Anglerinnen und Anglern der Fall sein würde. Tatsächlich aber kam erst in der Kombination von verschiedenen Anglergruppen ein akkurates Ergebnis heraus. Wir haben neben klassischen Anglerinnen und Anglern auch Gewässerwarte und Vorstände von Vereinen befragt.

Wenn wir nur eine Gruppe untersucht haben, verschlechterte sich das Ergebnis, je mehr Leute an der Lösung beteiligt waren. Das steht im Gegensatz zu der Annahme. Wir mussten erst einmal in jeder Gruppe die kollektive Lösung produzieren und die Gruppen wieder zusammenführen – dann war das Ergebnis hervorragend. Erklärt werden kann das damit, dass sich innerhalb einer Gruppe, die sehr viel miteinander zu tun hat, auch Mythen manifestieren können, die sich dann über viele Menschen einer Teilgruppe auch verstärken können. Zunächst muss man gewissermaßen die Vielfalt der Wissensbestände reduzieren (indem das Wissen jeder Teilgruppe separat aggregiert wird) und dann muss Vielfalt wieder eingespeist werden (indem die kollektiven Ergebnisse jeder Teilgruppe zusammengefasst werden). Das wissenschaftlich Neue war, dass wir eine Methode entwickelt haben, mit der man das Ergebnis optimieren kann.

In der Studie ging es um Hechte. Was haben Sie abgefragt?

Wir haben 218 Anglerinnen und Anglern bzw. Gewässerwarten, Vorständen und auch Fischereiwissenschaftlern die Aufgabe gestellt: „Mal mir auf, welche ökologischen Faktoren die Hechtbestände wechselseitig beeinflussen und in welcher Richtung und Stärke die Wechselbeziehungen ausgeprägt sind“. Es ging darum, Ursachen, Wirkungen und die Stärke der Zusammenhänge zwischen ökologischen Aktoren zu visualisieren – beispielsweise: Erhöhte Nährstoffe führen zu mehr Algen, mehr Algen trüben das Wasser ein, trüberes Wasser reduziert das Unterwasserkraut und das reduziert die Hechtvermehrung usw. Dann entstand ein grafisches Bild dessen, was Menschen als ökologische Hechtrealität wahrnehmen. Diese Daten sind eigentlich in einem anderen, transdisziplinären Projekt namens Besatzfisch  erhoben worden, bei dem wir das Einsetzen von Fischen als Bewirtschaftungsmaßnahmen von Angelgewässern transdisziplinär evaluiert haben und wir die sogenannten mentalen Modelle der Angler als Messinstrument zur Messung veränderten ökologischen Wissens einsetzen wollten.

Sie haben herausgefunden, wie viel Anglerinnen und Angler wissen. Wie lassen sich diese Ergebnisse anwenden?

Die Studie ist im Prinzip eingebettet in die große Debatte um die Bürgerwissenschaft und überdies Bestandteil des Diskurses zum Ko-Management von natürlichen Ressourcen durch Gruppen von lokalen Naturnutzern. Da geht es darum, dass „Laien“ in die Sammlung von Forschungsdaten eingebunden werden bzw. ihrerseits ihr ökologisches Wissen in die Gestaltung von Bewirtschaftungsmaßnahmen vor Ort umsetzen. Als Forscher können wir davon profitieren, dass Naturnutzerinnen und Naturnutzer über Jahre bestimmte Gebiete begehen und Erfahrungen machen. Wir können versuchen, dadurch schwer messbare Dinge, für die kein Monitoring existiert, zu erforschen. Man versucht, über eine große Stichprobe an Leuten bestimmte Dinge zu erfassen – zum Beispiel: Gehen die Insekten in einer bestimmten Gegend zurück? Was sind die Faktoren für diesen Rückgang? Das von uns entwickelte Verfahren ist eine Möglichkeit, Bürgerwissenschaften, aber auch die Bewirtschaftung von Natur und Umwelt demokratisch voranzutreiben und beispielsweise Angler und Anglerinnen, Jäger und Jägerinnen, Förster und Försterinnen oder Landwirtinnen und Landwirte einzubinden.

Auf der anderen Seite belegt unserer Studie, dass das Kollektiv von Anglern, die in Deutschland private Fischereirechtsinhaber sind und in dieser Rolle eigenverantwortlich Gewässer bewirtschaften, klug ist und die wissenschaftliche Erkenntnislage zum gleichen Gegenstand abbilden können, ohne wissenschaftlichen Input wohlgemerkt.

Die Idee der „Wisdom of the Crowd“ ist nicht neu. Was ist das Besondere an Ihrer Studie?

Bisher wurde Idee der „Wisdom of the Crowd“ für die Lösung relativ einfacher Probleme angewandt: Wie viele Blätter gibt es an einem Baum? Wie dick ist ein Stamm? Neu ist an dieser Studie, dass ein sehr komplexes Wissensgebiet erfragt wurde: Wie steuert sich die Populationsgröße einer Fischart? Es geht um ein komplexes Gebiet von sozial-ökologischen Interaktionen. Wir hoffen, dass wir mit der Methode Veränderungen von sehr schwierig zu messenden Dingen erforschen können. Zum Beispiel: Wie viele Fische gibt es in einem See? Das ist anders als bei Bäumen, die man einfach zählen kann. Das geht unter Wasser nicht. Aber es gibt tausende Anglerinnen und Angler, die seit Jahren an den Gewässern angeln und deren Erfahrung man nutzen kann.

Die zweite Besonderheit ist die Genese dieses gesamten Projekts, dessen Daten aus einem ganz anderen Anwendungsbereich entstanden sind. Am Ende haben unterschiedliche Disziplinen mitgewirkt: Humangeografie, Informatik, Ingenieurwissenschaften, Systemwissenschaften und Fischereiökologie.

Was bedeuten die Ergebnisse für die Anglerinnen und Angler?

Wir haben schlicht belegt, dass die Leute vor Ort nicht „doof“ sind. Es gibt die Tendenz zu behaupten: Nur wissenschaftliches Wissen beschreibt die Natur und die Umwelt exakt. Aber wir konnten zeigen, dass Praktikerinnen und Praktiker in der Lage sind, komplexe ökologische Zusammenhänge wissenschaftsäquivalent zu erfassen. Das ist mir als angewandt arbeitender Fischereiforscher zwar bewusst gewesen, weil ich mich sehr stark in der Kultur der Angler bewege.

Aber nun konnten wir anhand harter Daten beweisen, dass die Anglerinnen und Angler als Kollektiv in der Lage ist, Natur einzuschätzen. Man muss nicht immer von oben herab managen und wirtschaften. Gute Bewirtschaftung können die Leute vor Ort als Gruppe sehr gut selbst. Allerdings zeigen unsere Daten, dass für eine gute Lösung alle Arten von Anglergruppen, auch die Gewässerwarte und Vorstände, involviert sein müssen. Wenn man nur die Meinung von Teilgruppen einfließen lässt, wird das Ergebnis schlechter.

Was haben Praktikerinnen und Praktiker davon, in wissenschaftliche Forschung eingebunden zu werden?

Transdisziplinäre Kontexte sind etwas, bei dem beide Seite voneinander lernen. Ein Beispiel sind gemeinsam durchgeführte Experimente zu häufig eingesetzten, durchaus ambivalenten Maßnahmen wie dem Fischbesatz. Anglerinnen und Angler profitieren von dem wissenschaftlichen Zugang. Die Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt können Anglerinnen und Angler nutzen, um zu entscheiden, wie sie Gewässer künftig bewirtschaften. Wir Wissenschaftler profitieren auf der anderen Seite vom Praktikerwissen. Wir haben in transdisziplinären Kontexten extrem gute Erfahrungen damit gesammelt, dass man zusammen auf Augenhöhe Probleme löst oder Dinge erforscht. Man geht zusammen auf die Reise und lernt voneinander. Aktuell erforschen wir z. B. wie die Aufwertung von Ufern in Baggerseen die biologische Vielfalt steigern kann  oder in welchem Zustand sich die Hechtbestände in den Küstengewässern um Rügen befinden.

Das Interview führte Inga Dreyer.

Studie

Aminpour, P., Gray, S.A., Jetter, A.J., Introne, J.E., Singer, A., Arlinghaus, R. (2020). Wisdom of stakeholder crowds in complex social-ecological systems. Doi: 10.1038/s41893-019-0467-z

Link zur Studie

Kontakt

Prof. Dr. Robert Arlinghaus
Professor für Integratives Fischereimanagement an der HU und am IGB

Tel: +49 (0)30 64181 653
arlinghaus@igb-berlin.de