„Die meisten Schüler*innen engagieren sich für Themen, die ihnen wichtig sind“
Dr. Farriba Schulz der Humboldt-Universität
ist Leiterin des Projektes „Seen & Heard“
Am 20. November ist der Internationale Tag der Kinderrechte, an dem vor 35 Jahren die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet wurde. Welche Rolle spielt die Konvention für das Projekt „Seen & Heard“?
Unser Forschungs- und Öffentlichkeitsprojekt „Seen & Heard“ ist eine im Rahmen von Erasmus+ finanzierte Zusammenarbeit zwischen der University of Malta, der University of Wroclaw, der HU und Amnesty International Poland. Im Zentrum steht das Recht junger Menschen auf freie Meinungsäußerung und Teilhabe in Europa, wie es auch im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 verankert ist. Es geht dabei um die Frage, wie fürsorgliches, generationenübergreifendes und auf die Menschenrechte ausgerichtetes Zusammenleben in post-migrantischen Gesellschaften vorstellbar und zu verwirklichen ist.
Um herauszufinden, wie 10- bis 14-Jährige die Kinderrechtskonvention erfahren, haben Sie Berliner Schulen besucht.
Genau. Mit einem Forschungsteam, das von mir an der HU geleitet wird, haben wir Online-Umfragen und Literaturworkshops in 5. und 6. Klassen Berliner Grundschulen umgesetzt. Insgesamt konnten die Umfragedaten von 59 Schüler*innen ausgewertet werden. An den Literaturworkshops haben 131 Grundschüler*innen teilgenommen. Parallel hierzu wurden die gleichen Personengruppen in einer ähnlichen Größenordnung mit den gleichen Fragen in Wroclaw und Malta befragt.
Zur eigenen Meinung ermutigen
Was war die Fragestellung an die Schüler*innen?
Eine wichtige Frage war, wo die Schüler*innen neue Geschichten kennenlernen. Dabei werden Filme (87,1%) am häufigsten genannt, gefolgt von Social Media (72,6%) und Büchern (66,1%). Bei der Frage danach, in welchen Medien die Schüler*innen die spezifischen Themen bereits wahrgenommen haben, werden bezüglich „Klimakrise und Umweltzerstörung“ oder „Militärische Konflikte“ Social Media am häufigsten genannt, gefolgt von Filmen und Büchern.
Welche Themen spielen für die Schüler*innen eine Rolle?
Bei der Wichtigkeit verschiedener Themen zeigt sich, dass die Schüler*innen verschiedene Themen durchaus differenziert betrachten. Besonders oft wird es als sehr wichtig angesehen, Menschen dazu zu ermutigen, ihre eigene Meinung zu sagen. Die meisten Schüler*innen haben sich schon oft oder manchmal für etwas Wichtiges eingesetzt, z.B. gegen Mobbing, Rassismus und Diskriminierung für den Klima- und Umweltschutz oder sich an Demonstrationen gegen die AfD oder kriegerische Auseinandersetzungen beteiligt. Interessant fand ich, dass Schüler*innen, die sich aktiv für Dinge engagieren wollen, eine differenzierte Darstellung von Menschen in Medien und eine Ermutigung zur eigenen Meinungsäußerung als wichtiger ansehen, als solche Schüler*innen, die sich nicht aktiv für etwas einsetzen wollen.
Wenn man es auf den Projekttitel bezieht: Fühlen sich die jungen Leute „gesehen und gehört“?
In der Online-Umfrage antworteten bei der Frage, ob Erwachsene den Kindern zuhören, zwar nur zwei Kinder „Nein“, jedoch beantworteten auch nur 25 Kinder die Frage mit einem klaren „Ja“.
Zusammenarbeit mit Künstler*innen in drei Ländern
Können die am Projekt teilnehmenden Schüler*innen auch selbst aktiv werden?
Ja, das Projekt zielt auch darauf ab, die jungen Menschen zu ermächtigen, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung gestalterisch zu nutzen. Im Rahmen eines Mentoring-Programms kamen zwölf Schüler*innen aus einer 6. Klasse einer Berliner Grundschule zusammen. Sie arbeiteten mit kunst-, theater-, literatur- und filmpädagogischen Partner*innen zusammen zu den Themen, die im Kontext von Menschen- bzw. Kinderrechten wichtig sind. In Berlin haben die Schüler*innen mit dem Grips Theater, dem Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, der Unterstützung von Uli Decker, Fabian Schrader, Tanasgol Sabbagh und Zoltan Kunckel mit unterschiedlichen ästhetischen Zugängen ihre Bedürfnisse, Wünsche, Hoffnungen und Kritik zum Thema gemacht, erprobt und geäußert. Daraus wurden dann Filme produziert.
Wie sah die Zusammenarbeit der Schüler*innen mit den anderen Ländern aus?
Die in Berlin, Malta und Wroclaw entstandenen Filme werden Anfang 2025 auf der Projektwebseite veröffentlicht. Die Umsetzung des Mentoring-Programms wurde an allen beteiligten Schulen von der Filmemacherin Charlie Cauchi aus Malta dokumentiert. Aus den Aufnahmen entsteht eine Dokuserie. Außerdem wird unter der Leitung von Amnesty International Poland auf der Grundlage der Zeichnungen der Schüler*innen und ihrer Texte die Autorin Sita Brahmachari ein Gemeinschaftsgedicht kuratieren. Dieses erscheint als Kinderbuch mit Illustrationen des Amnesty UK-Botschafters Chris Riddell.
Was wird noch stattfinden?
Wir sind noch dabei, die Forschungsergebnisse zwischen Malta, Wroclaw und Berlin zu vergleichen. Für 2026 planen wir in Malta die Konferenz „Young People’s Voices and Freedom of Expression“. Die Veranstaltung soll die akademische Vielfalt zum Thema widerspiegeln und Studien aus verschiedenen Forschungs- und Praxisbereichen, akademischen Methoden und internationalen Konzepte beinhalten.
Literatur als Fenster und Spiegel der Welt
Sie arbeiten an der HU für den Arbeitsbereich Deutschunterricht und seine Didaktik in der Primarstufe. Haben Sie einen Tipp für angehende Lehrkräfte, wie sie junge Menschen ermutigen können, ihre Meinung zu bilden und zu äußern?
Als „Beobachtungssystem der Gesellschaft“ bietet Literatur Möglichkeiten, sich mit der Welt auseinanderzusetzen und sie zu sich selbst in Bezug setzen zu können. Ich empfehle deswegen dringend, dieses Potential zu nutzen, um mit Schüler*innen die wichtigen Fragen, die uns als Menschen umtreiben, zum Thema zu machen. Das Gute dabei ist, dass man im Gespräch über und zu Literatur und ihren Medien verschiedene Positionen einnehmen, zugleich Gefühle, Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse formulieren, den jeweiligen Standpunkt erklären – und die eigene Meinung zu äußern erproben kann.
Mein zweiter Tipp wäre: Liebe angehende Lehrkräfte, verlassen Sie so oft wie möglich den Klassenraum! Wir haben ja hier in Berlin großartige Kulturinstitutionen und eine einzigartige Kreativszene, mit der das auf so vielfältige Weise möglich ist. Gemeinsam mit Akteur*innen der Berliner Kulturlandschaft können fundierte Erfahrungen, erprobte Methoden und ästhetische Zugänge genutzt werden, die eigene Meinung bilden und auch äußern zu können. Welche künstlerischen Formate erlauben mir, meine Gedanken und Gefühle nach außen hin auf welche Art respektvoll zu kommunizieren, mit anderen diversitätssensibel zusammenzuarbeiten und zugleich auch noch, Kritik an dem zu üben, das demokratisches Miteinander gefährdet und Inklusion entgegensteht? Das kann ich sehr gut in Bildungsallianzen mit (inter)nationalen, universitären, schulischen und kulturellen Partner*innen erfahren und dabei auch noch gemeinsam die entsprechenden Kinderrechte stärken und die Teilhabe aller Schüler*innen zu und an Bildung fördern.
Über das Projekt
„Seen & Heard: Young People's Voices and Freedom of Expression“ ist ein Projekt zur freien Meinungsäußerung, das sich auf junge Menschen in Europa konzentriert. Im Zentrum des Projekts steht die Koproduktion von kreativem Protest und die Mobilisierung des Menschenrechts auf freie Meinungsäußerung mit jungen Menschen, die als Künstler*innen und Produzent*innen in Aktion treten. Unterstützt werden sie dabei von Wissenschaftler*innen, Pädagogen*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen, Verleger*innen und politischen Entscheidungsträger*innen. Das Projekt wird im Rahmen des Erasmus+ HED Cooperation Partnership Projekts (2023-2026) von der Europäischen Union gefördert. „Seen & Heard“ ist eine Zusammenarbeit der University of Malta (Projektleitung) mit der Humboldt-Universität zu Berlin, der University of Wroclaw und Amnesty International Poland.
Zur Website des Projekts „Seen & Heard“
Kontakt
Dr. Farriba Schulz
Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin
E-Mail: farriba.schulz@hu-berlin.de
Tel.: 030 2093-66886