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„Es geht um den Ursprung von allem“

Prof. Issever hält am 19.8. eine KOSMOS-Lesung über den Large Hadron Collider, wo sie selbst forscht. Im Interview berichtet sie, woran sie arbeitet und warum die Forschung an dem weltweit größten Teilchenbeschleuniger gesellschaftlich relevant ist.
Prof. Dr. Cigdem Issever

Prof. Dr. Cigdem Issever, Foto: Matthias
Heyde

Cigdem Issever, Professorin an der HU und leitende Wissenschaftlerin am DESY in Zeuthen, forscht im ATLAS-Experiment am Large Hadron Collider (LHC). In dem ringförmigen Teilchenbeschleuniger des CERN, dem größten Forschungszentrum für Teilchenphysik der Welt, prallen Protonen bei sehr hoher Energie aufeinander. Forschende aus aller Welt wollen Zustände wie unmittelbar nach dem Urknall erreichen, um diese Teilchenkollisionen zu messen und zu analysieren. 2012 haben Forschende der ATLAS- und CMS-Experimente unabhängig voneinander das Elementarteilchen Higgs-Boson nachgewiesen. Die Teilchenphysikerin erklärt im Interview, warum der Fund wichtig war, woran sie zurzeit forscht und warum die Forschung am LHC gesamtgesellschaftlich relevant ist.

Frau Issever, was passiert am LHC genau?

Der Large Hadron Collider ist ein Ringbeschleuniger, in dem Protonen auf höchste Energien, die man zurzeit in Laboren erreichen kann, beschleunigt werden. Bei diesen hochenergetischen Zusammenstößen wird die Kollisionsenergie – die kinetische Energie und Ruheenergie der Protonen – unter anderem in Materie umgewandelt. Wir erhoffen uns dabei, dass wir Teilchen erzeugen können, die in unserem normalen Alltag nicht vorhanden sind. Wir suchen neue, uns noch nicht bekannte Teilchen.

Gibt es Strukturen, die noch kleiner sind als die Quarks?

Ein weiterer Grund, warum wir hohe Energien benötigen, liegt in der Quantenmechanik: Man kann jedem Teilchen eine Wellenlänge zuordnen, die immer kürzer wird, je hochenergetischer das Teilchen ist. Je kurzwelliger die Teilchen, desto kleinere Strukturen können wir mit ihnen auflösen. Wir sind in der Lage, Strukturen aufzulösen, die 10 hoch -15 Meter groß sind. Es sind Größenordnungen, die man sich gar nicht vorstellen kann und in denen wir Quarks, aus denen Protonen und Neutronen aufgebaut sind, ‚sehen‘ können. Mit diesen Experimenten am LHC versuchen wir zum Beispiel herauszufinden, ob wir Quarks, die nach unserem jetzigen Stand des Wissens Elementarteilchen sind, aus anderen viel kleineren Teilchen aufgebaut sind. Zurzeit haben wir noch keine kleineren Strukturen als die Quarks entdecken können. Nach heutigem Stand sind die Quarks und die Leptonen (Elektronen) die kleinsten Bausteine der Materie. Es wäre eine Riesensensation, wenn wir eine neue, noch kleinere Struktur am LHC auflösen würden.

Warum war der Fund des Higgs-Boson wichtig?

Der LHC wurde unter anderem gebaut, um das Higgs-Boson zu finden. Es ist ein spezielles Teilchen, weil es Elementarteilchen Masse gibt. Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die Bestandteile der Materie und ihre Wechselwirkungen. Im Standardmodell kann man Elementarteilchen mit Hilfe des Higgs-Bosons in einer mathematisch konsistenten Art und Weise Masse geben. Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons haben wir den Schlüssel zum Masse gebenden Mechanismus in der Natur gefunden. Robert Brout, François Englert und Peter Higgs haben den Mechanismus, der es erlaubt, Elementarteilchen Masse zu geben, in den 1960er Jahren in der Theorie formuliert. Dieser Mechanismus wird auch Brout-Englert-Higgs-Mechanismus genannt. Dabei wird ein Higgs-Feld postuliert, das unser Vakuum durchzieht. Zu diesem Higgs Feld gehört auch ein Teilchen, das Higgs-Boson. Das 2012 entdeckte Higgs-Boson stimmt im Rahmen unserer experimentellen Unsicherheiten in allen Messungen mit den Vorhersagen des Brout-Engert-Higgs-Mechanismus überein. Mit der Entdeckung des Higgs-Bosons konnten wir diese theoretische Vorhersage nach über 40 Jahren experimentell verifizieren. Das war das Großartige am Fund des Higgs-Bosons.

Warum spielt der Masse gebende Mechanismus eine so bedeutende Rolle?

Lassen Sie uns zurückgehen zur Entstehung des Universums: Gäbe es in der Natur keinen Mechanismus, der Elementarteilchen Masse gäbe, dann hätten alle Teilchen, die beim Urknall entstanden sind, keine Masse, das heißt, später hätten sich weder Atome, Moleküle, Planeten, Sterne noch alles andere bilden können. Wir würden nicht existieren, wenn es nicht das Higgs-Feld im Vakuum oder einen anderen Mechanismus in der Natur gebe, der Elementarteilchen Masse gibt. Um die Entwicklung des Universums zu verstehen, ist es deshalb fundamental wichtig zu ergründen, wie Elementarteilchen Masse bekommen.

Und an der jetzigen Erklärung gibt es keinen Zweifel? Kann es sein, dass man in zehn Jahren zu einem anderen Schluss kommt?

Wir können Higgs-Teilchen im LHC immer wieder reproduzieren und nachweisen. Aber das Standardmodell der Elementarteilchen ist die einfachste Version, wie man Elementarteilchen Masse geben kann. Es kann viele Dinge nicht erklären, die wir in der Astroteilchenphysik, der Teilchenphysik und in der Kosmologie sehen. Wir haben keine vollständige Theorie der Natur, es kann nicht das Ende der Geschichte sein. Der vorgeschlagene Brout-Englert-Higgs-Mechanismus ist einer der einfachsten Wege, wie Teilchen wie das Higgs-Boson Elementarteilchen Masse geben könnte. Der Mechanismus könnte in der Natur komplizierter sein, es könnte zum Beispiel mehr als ein Higgs-Boson geben. Deshalb suchen wir nach weiteren Higgs-Bosonen und anderen uns noch unbekannten Teilchen, die eventuell anderen Modellen entsprechen könnten. Der LHC wird noch weitere Jahrzehnte laufen müssen, damit wir mit noch höherer Präzision das Higgs-Boson ausmessen können. Wir müssen unsere Messgenauigkeit erhöhen, damit wir eventuelle Abweichungen in den Daten von den theoretischen Vorhersagen nachweisen können. Dafür benötigen wir viel mehr Daten, die der LHC in den kommenden Jahrzehnten liefern wird. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.

Welches Wissen haben Sie über das Higgs-Teilchen, welches fehlt noch?

Wir wissen, wie das Higgs-Boson den Elementarteilchen Masse gibt, nämlich durch die Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld. Wir wissen aber nicht, was der Ursprung des Higgs-Felds ist. Das ist eine der Fragen, die wir versuchen zu beantworten. Ich fürchte, der LHC wird dafür wahrscheinlich nicht ausreichen. Wir müssen andere Beschleuniger bauen oder andere Wege finden, um hinter den Mechanismus des Higgs-Feldes zu kommen.

Sie sind Expertin für sogenannte Jets, worum geht es dabei?

Die Kollisionen hinterlassen verschiedene Spuren im Detektor, Protonen und Neutronen kommen sehr weit und produzieren Teilchenschauer, auch Jets genannt. Ich bin Expertin für diese Jets, ich rekonstruiere diese Teilchen, ihre Energien und Impulse. Um zu verstehen, was bei der Kollision passiert ist, müssen wir sehr genau messen, welche Energien die Teilchen haben und welchen Weg sie im Detektor genommen haben.

Woran arbeiten Sie zurzeit intensiv?

Ich bereite unter anderem Messungen im LHC vor, die Wissenschaftler:innen helfen werden, herauszufinden, was der Ursprung des Higgs-Felds ist. Wichtig für den Higgs-Mechanismus ist die Form des Higgs-Potenzials, das Energiefeld des Higgs-Feldes. Es gibt eine Vorhersage, wie die Form des Energiefelds aussehen sollte. Es ist aber nur eine Vorhersage. Mein Ziel und vieler anderer Wissenschaftler:innen ist es, das Higgs-Potenzial auszumessen und zu verifizieren.

Ich mache das in einem ganz bestimmten Zerfallskanal des Higgs-Bosons, wo Higgs-Bosonen in b-Quarks zerfallen und Jets produzieren. Ich suche nach Kollisionen, wo wir zwei Higgs-Bosonen sehen können, was sehr selten ist. Wenn ich diese finde und genau ausmesse, gewinne ich mehr Aufschluss über die Form des Higgs-Potenzials. Es ist ein sehr schwieriges Unterfangen, das viel Geduld brauchen wird. Es kann gut sein, dass ich damit den Rest meiner Karriere beschäftigt bin.

Wie kann man sich die Arbeit am LHC organisatorisch vorstellen, vor allem in Pandemie-Zeiten?

Die Rekonstruktion der Daten ist ein langwieriger Prozess. Die Kollaboration funktioniert wie ein Ameisenhaufen, wir haben Arbeitsteilung. Es sind beispielsweise Gruppen für die Aufzeichnung der Daten zuständig, andere bereiten die Messungen vor, meine Gruppe hilft bei der Vorbereitung der Aufzeichnung der Daten, damit wir die richtigen Daten selektieren und aufbereiten können, andere Gruppen machen für uns die Identifikation der b-Quarks. Die gewonnenen Daten werden weltweit zur Analyse bereitgestellt, ich kann also auch an der HU oder am DESY Zeuthen arbeiten. In der Regel finden dreimal im Jahr einwöchige Kollaborationstreffen statt. Diese konnten in den letzten anderthalb Jahren nur digital stattfinden.

Ein Nebenprodukt des LHC ist das WWW, stimmt das?

Ja, das Internet gab es schon vorher, aber das WWW wurde von einem Physiker am CERN aufgesetzt. Wir mussten ein System finden, um Informationen effektiv miteinander zu teilen, das war die Geburtsstunde des WWW. Unsere Forschung hat auch große Auswirkungen auf andere Bereiche wie die Medizinforschung, Datenanalyse oder Modellierung. Viele Ausgründungen sind aus der Teilchenphysik hervorgegangen, die auch in andere Bereiche der Gesellschaft wirken.

Was fasziniert Sie an Ihrer Arbeit?

Es geht um den Ursprung von allem, es geht um fundamentale Mechanismen, die dazu führen, dass wir überhaupt da sind. Viele fundamentale Fragen sind nicht geklärt, wir wissen nicht, was Masse ist, wir wissen nicht, was Energie ist. Wir untersuchen am LHC auch die Struktur des Vakuums. Wir haben herausgefunden, dass es nicht leer ist, wie man allgemein denkt, sondern ein aktives Medium mit einer Struktur. Das bringt mich an den Rand der physikalischen Welt und treibt mich an: Die Antworten, die man der Menschheit geben könnte, sind so wichtig.

Zudem finde ich die kollaborative Atmosphäre, in der wir Wissenschaft am LHC durchführen, ungemein attraktiv. Ich arbeite mit Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt und unterschiedlichster Kulturen friedlich zusammen. Das ist in einer Welt, in der Nationalismus immer wichtiger wird, sehr schön. Mir gefällt auch, dass wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Wenn man sich ein Beispiel für die friedliche und konstruktive Zusammenarbeit von Menschen aus aller Welt anschauen möchte, sollte man auf das CERN schauen. Es gibt mir Hoffnung.

Das Interview führte Ljiljana Nikolic.

Termin

Open Humboldt Festival | KOSMOS-Lesung: „Expedition Large Hadron Collider – Reise in das Unbekannte“

Sommer-KOSMOS am Campus Nord im Rahmen des Open Humboldt Festivals mit Prof. Dr. Cigdem Issever, moderiert von Prof. Dr. Christoph Schneider

Donnerstag 19. August 2021
18.00 – 19.30 Uhr

Open Air Bühne, Campus Nord,
Zugang über Philippstr. 13, 10115 Berlin

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