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„Die ukrainische Wissenschaft leidet unter Verlust, Zerstörung und mangelnder Finanzierung“

Prof. Dr. Leonid Yatsenko floh kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 aus der Ukraine nach Berlin. Er ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe von Prof. Dr. Arno Rauschenbeutel am Institut für Physik der Humboldt-Universität.
Leonid Yatsenko

Prof. Dr. Leonid Yatsenko
Foto: Sebastian Pucher / HU

Herr Yatsenko, wie geht es Ihnen in Berlin und an der HU?

Danke der Nachfrage, dank der Humboldt-Universität und vor allem der Unterstützung von Prof. Dr. Arno Rauschenbeutel und der Verwaltung des Instituts für Physik an der Humboldt-Universität habe ich die Möglichkeit, meine Arbeit in der Quantenoptik in Zusammenarbeit mit exzellenten jungen Doktoranden und Postdocs fortzusetzen.

Seit zwei Jahren gehören Raketen, Luftalarm, Drohnenangriffe und schwere Kämpfe zum Alltag in vielen Teilen der Ukraine. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an diesen traurigen Jahrestag denken?

Wie ich bereits vor zwei Jahren in meinem Interview sagte, ist es einfach unglaublich, dass diese Vollinvasion stattfindet. Jetzt ist das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann, dass die russische Propaganda, als ein weiteres Instrument der hybriden Kriegsführung, nicht nur in Russland selbst erfolgreich ist, wo nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung gegen die Aggression gegen die Ukraine ist, sondern auch teilweise in Europa und der Welt insgesamt. Diese Propaganda rechtfertigt das Töten von Ukrainern und die Zerstörung von Städten und Dörfern. Die Ukraine benötigt dringend Unterstützung aus dem Westen, und ich bin sehr dankbar gegenüber Deutschland, das nun der größte Unterstützer für die Ukraine in Europa geworden ist.

Haben Sie noch Kontakt zu wissenschaftlichen Institutionen und Kolleg*innen in Kiew, wo Sie früher gearbeitet und gelebt haben? Unter welchen Bedingungen findet dort zurzeit Lehre und Forschung statt?

Ja, ich beteilige mich weiterhin aktiv an der Arbeit des Instituts für Physik der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Derzeit befinde ich mich offiziell in einem langfristigen wissenschaftlichen Einsatz zur Ausbildung an der HU. Aber dank der Online-Kommunikation nehme ich an allen wichtigen Ereignissen teil, die am Institut und in der Akademie der Wissenschaften insgesamt stattfinden. Um ein Beispiel zu nennen, in einer Woche wird mein Doktorand in Kiew seine Dissertation verteidigen, an der ich online als Betreuer teilnehmen werde. Übrigens ist das Thema seiner Arbeit sehr nahe an der aktuellen Forschung der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Arno Rauschenbeutel zur Beobachtung von Superradiance-Bursts mit Nanofasern. Hoffen wir, dass während der Verteidigung keine weiteren ballistischen Raketen oder Drohnenangriffe auf Kiew stattfinden, damit es keine Stromausfälle gibt und die Verteidigung der Dissertation erfolgreich verläuft.

Welche Folgen hat der russische Angriffskrieg auf die akademische Welt in der Ukraine allgemein?

Die russische Aggression hat zu sehr ernsten Folgen für die ukrainische Wissenschaft geführt. Ich möchte vier Folgen – Verlust, Zerstörung, mangelnde Finanzierung und verminderte internationale Zusammenarbeit – nennen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden gezwungen, das Land zu verlassen oder sind durch den Krieg ums Leben gekommen. Der Verlust von Forschenden wird auf bis zu 20 Prozent geschätzt und betrifft die aktivsten und produktivsten Wissenschaftler. Der Krieg hat zur Zerstörung wissenschaftlicher Infrastruktur wie Laboren, Forschungszentren und anderen Einrichtungen geführt. Aufgrund des Krieges wurde außerdem die staatliche Finanzierung für wissenschaftliche Forschung in der Ukraine erheblich reduziert. Der Krieg hat die Möglichkeiten für internationale Zusammenarbeit in der Wissenschaft verringert, da Forschende weniger reisen und weniger mit Kollegen aus anderen Ländern kommunizieren.

Wie lautet Ihre Prognose?

Insgesamt sind diese Verluste sehr schwerwiegend, aber ich hoffe, sie sind nicht tödlich für die Wissenschaft. Es gibt derzeit mehrere Anzeichen dafür, dass die Wissenschaft in der Ukraine langsam wieder auf die Beine kommt. Im Jahr 2023 hat die Nationale Forschungsstiftung der Ukraine, an deren Schaffung und Entwicklung ich das Glück hatte, als ihr erster Leiter beteiligt zu sein, ihre Arbeit wiederaufgenommen. Mehrere neue Wettbewerbe wurden ausgeschrieben, darunter auch eine Ausschreibung im „Ukrainian-Swiss Joint Research Programme“ für gemeinsame Forschungsprojekte zwischen Forschenden aus der Ukraine und der Schweiz. Ich hoffe sehr, dass bald ähnliche Wettbewerbe gemeinsam mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder anderen deutschen Institutionen ausgeschrieben werden.

Was brauchen ukrainische Wissenschaftler*innen und Lehrkräfte in der Ukraine Ihrer Meinung nach zurzeit am dringendsten?

Wie alle Ukrainer benötigen auch Akademiker und Lehrer in der Ukraine derzeit positive Nachrichten von der Front, wie die Annahme eines Hilfspakets für die Ukraine durch den US-Kongress, die Bereitstellung neuer Waffenarten durch Deutschland und so weiter. Jetzt ist der Moment, in dem die Gesellschaft des Krieges müde ist und darauf wartet, dass bestätigt wird, dass die Welt die Ukraine nicht allein mit einem Aggressor lässt, der objektiv betrachtet, die Ukraine in materiellen und menschlichen Ressourcen übertrifft. Was die unmittelbare Unterstützung für Wissenschaft und Bildung betrifft, so ist es notwendig, Initiativen zur direkten Unterstützung von Wissenschaftlern in der Ukraine fortzusetzen.

Was wissen Sie über ukrainische Wissenschaftler*innen, die nach Deutschland geflohen sind? Würden Sie sagen, dass sie größtenteils einen Platz für sich an Forschungsinstitutionen finden konnten?

Was meine Bekannten betrifft, so haben die meisten von ihnen Möglichkeiten gefunden, ihre wissenschaftliche Arbeit in Deutschland fortzusetzen. Dies gilt jedoch hauptsächlich für Wissenschaftler, die bereits vor dem Krieg enge wissenschaftliche Kontakte zu Forschungszentren in Deutschland hatten, und für junge Doktorandinnen und weibliche Postdocs, die gerade ihre Karriere in der Wissenschaft beginnen. Ein großer Teil der Wissenschaftler, der in den ersten Monaten des Krieges die Ukraine verlassen hat, ist bereits in die Heimat zurückgekehrt. Ich hoffe aufrichtig, dass auch wir bald in unsere geliebte Ukraine zurückkehren werden, die den Krieg gegen den aggressiven Nachbarn siegreich überstanden hat.

Die Fragen stellte Ljiljana Nikolic

Über Leonid Yatsenko

Leonid Yatsenko war bis 1979 Postgraduiertenstudent am Physikalischen Institut Lebedev in Moskau. Von 1979 bis 1986 war er Junior Research Fellow am Institut für Physik der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kiew, Ukraine. Bis 1997 war er dort Senior Research Fellow, bevor er von 2007 bis 2018 die Position des Direktors des Instituts für Physik der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Kiew, innehatte. Von 2019 bis 2022 war er Leiter der Nationalen Forschungsstiftung der Ukraine (NRFU), eine Institution, die vergleichbar mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist.