Presseportal

„Über Verdrängung weiß man bislang sehr wenig“

Geographen der HU untersuchen in einer empirischen Studie Verdrängungsprozesse in Berlin

Skyline von Berlin
Abb.: Colourbox.de

Im Kooperationsprojekt „Verdrängungsprozesse in Berlin“ forschen Prof. Dr. Henning Nuissl und Fabian Beran vom Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) gemeinsam mit der Wüstenrot Stiftung zu einem höchst aktuellen Thema. Im Interview sprechen die Wissenschaftler über ihr Vorhaben, Verdrängung empirisch zu untersuchen.

Herr Nuissl, Herr Beran, Sie forschen seit 2014 in einer großen Studie zum Thema „Verdrängung in Berlin“. Wie kam es zu dieser Idee?

Henning Nuissl: Gentrifizierung und Verdrängung sind klassische Themen der Stadtgeographie, durch steigende Mieten auf dem Berliner Wohnungsmarkt liegt das Thema auf der Hand. Fabian Beran hatte den Plan, zu diesem Thema eine Dissertation mit einer empirischen Studie zu verfassen. Außerdem gab es ein Interesse der Wüstenrot Stiftung, die das Thema ebenfalls untersuchen wollte. Wir sind zusammengekommen und haben so die finanziellen Mittel generieren können, um in einer großen quantitativen Studie das Thema „Verdrängung in Berlin“ untersuchen zu können.

Wie sind Sie bei Ihrer Studie vorgegangen?

Henning Nuissl

Prof. Dr. Henning Nuissl. Abbildung: privat

Nuissl: Wir haben mit einem sehr differenzierten Fragebogen eine große Zahl von Personen angeschrieben, die in der Vergangenheit umgezogen sind.

Fabian Beran: Die empirische Erhebung haben wir Ende 2015 durchgeführt. Wir haben insgesamt 10.000 Fragebögen an unsere Zufallsstichprobe von Umzüglern aus dem Melderegister geschickt. Der Rücklauf kam Anfang 2016, wir sind aktuell in der Auswertungsphase. Wir haben rund 2350 Fragebögen zurückerhalten, das ist eine sehr gute Rücklaufquote, zumal rund 1200 Fragebögen von der Post gar nicht zugestellt werden konnten. Die hohe Antwortbereitschaft zeigt vermutlich auch, wie aktuell das Thema in Berlin ist.

Ihre Erhebung wurde in den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte durchgeführt. Warum gerade dort?

Nuissl: Wir haben die Frage der Gebietsauswahl lange und kontrovers diskutiert und am Ende eine pragmatische Entscheidung getroffen. Wir haben uns auf den Innenstadtbereich beschränkt, weil dort das Phänomen des Wandels sehr stark ausgeprägt ist. Es liegt die Vermutung nahe, dass Verdrängungsprozesse vor allem dort stattfinden. Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte sind heterogene Bezirke. In beiden sind die Mieten in der Vergangenheit überdurchschnittlich stark gestiegen, auch die Umzugszahlen sind überdurchschnittlich hoch – und man findet dort kaum noch alte Berliner. Das alles spricht dafür, den Fokus unserer wissenschaftlichen Untersuchung auf diese Gebiete zu richten.

In Berlin wird viel von Gentrifizierung gesprochen. Welche Rolle spielt Verdrängung in diesem Zusammenhang?

Nuissl: Gentrifizierung kann als soziale, bauliche, ökonomische Aufwertung von Stadtteilen, die in der Regel mit einem Austausch von Bevölkerungsgruppen einhergeht, verstanden werden. Es handelt sich also um ein eher breit definiertes Phänomen. Wir hingegen wollen anhand konkreter Aussagen von Menschen, die umgezogen sind, nach den Hintergründen und Motiven von Um- bzw. Wegzügen und damit nach mutmaßlichen Verdrängungsprozessen suchen. Solche Verdrängungsprozesse spielen in den Debatten über Gentrifizierung eine zentrale Rolle. Aber sie sind nicht mit Gentrifizierung gleichzusetzen, und vor allem: man weiß bislang sehr wenig über sie.

Beran: In unserer Studie operationalisieren wir Verdrängung über Umzugsgründe. Aber Umzugsentscheidungen von Personen und Haushalten sind sehr komplex, Umzüge aus nur einem Grund sehr selten. Solche Entscheidungen werden in der Regel über einen längeren Zeitraum getroffen, oft kommen mehrere Gründe zusammen. Das war eine echte Herausforderung für die Konstruktion unseres Fragebogens.

Nuissl: Wir mussten in unserer Arbeit klären: Was ist eine plausible Definition von Verdrängung? Ist man erst verdrängt, wenn der Vermieter alles unternimmt, um einen aus der Wohnung zu bekommen? Oder reicht es schon, wenn sich der Kiez so verändert, dass man sich dort nicht mehr wohlfühlt? Verdrängung ist ein breites Feld, es gibt jede Menge Schattierungen. Eine Sortierung dieser Verdrängungsdefinitionen wird ein zentrales Ergebnis unseres Projekts sein.

Sie haben in Ihrem Fragebogen viele Daten erhoben, die nun ausgewertet werden. Wie nähern Sie sich nun dem Thema der Verdrängung?

Fabian Beran

Fabian Beran. Abbildung: privat

Beran: Bei der Typologie der Verdrängten, die wir erstellen wollen, werden wir auf die Frage abzielen, welche Gründe einem Umzug zugrunde lagen und ob er als freiwillig oder unfreiwillig wahrgenommen wird. Bei der Einschätzung kommt man als Forscher oft zu anderen Ergebnissen als die Betroffenen. Wir wollen zudem die Verdrängten und Nicht-Verdrängten gegenüberstellen und zum Beispiel schauen, welchen Einfluss der Umzug auf die Wohnzufriedenheit der Befragten hat. Gerade diese Wohnzufriedenheit ist ein spannender Aspekt für uns. Wir haben verschiedene Dinge abgefragt: Zufriedenheit mit der Verkehrsanbindung, der Wohnungs-Ausstattung oder dem Vermieter. Das haben wir noch nicht abschließend ausgewertet. Die Ergebnisse stehen und fallen ja auch damit, wo wir die Grenze zwischen Verdrängten und Nicht-Verdrängten ziehen.

Auch wenn Ihre Forschung noch nicht abgeschlossen ist: Geben Sie doch mal einen kleinen Ausblick auf die Ergebnisse?

Nuissl: Wir sind mit den Auswertungen noch nicht soweit, dass wir über konkrete Ergebnisse sprechen könnten. Was man mit Blick auf die erhobenen Daten aber schon sieht: Verdrängung hat nicht zwangsläufig etwas mit einem mehr oder weniger weiten Umzug aus dem Ursprungsquartier zu tun. In der Auswertung zeigen sich da ganz verschiedene räumliche Muster.

Beran: Ja, eine These wie „Verdrängung findet immer an den Stadtrand statt“, wird mit ziemlicher Sicherheit nicht zu halten sein. Die konkreten Ergebnisse werden voraussichtlich Ende 2017 veröffentlicht und können dann kostenfrei bei der Wüstenrot Stiftung angefordert werden.

Das Interview führte Benjamin Binkle

Weitere Informationen

Kontakt

Dr. Henning Nuissl
Geographisches Institut der HU