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Sieben Kartons Leben

Spurensuche im Nachlass von Robert Gragger, dem Gründer des Ungarischen Lehrstuhls an der Humboldt-Universität zu Berlin

Als Robert Gragger mit nicht einmal 40 Jahren starb, hatten die deutsch-ungarischen Wissenschaftsbeziehungen ihren leidenschaftlichsten Fürsprecher und Organisator verloren. 1926 war das. Was der junge Ungarndeutsche, der sich beiden Ländern gleichermaßen zugehörig fühlte, in nur zehn Jahren in Berlin auf die Beine stellte, hat bis heute Bestand. Mehr noch: Der von ihm gegründete Lehrstuhl für Ungarische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) ist der älteste im Ausland, der von Beginn an ununterbrochen existiert. Gragger hat sogar ein Ehrengrab auf dem Friedhof in Dahlem.

Die "Altungarische Marienklage" aus dem Mittelalter, das älteste ungarische Gedicht.
Protokoll über die "altungarische Marienklage", das
älteste ungarischsprachige Gedicht, das Robert
Gragger in einem Kodex identifizierte
Foto: Dr. Györgyi Brandt

Spätestens seit den 1960er-Jahren weiß man vom umfangreichen Nachlass Graggers. Beinahe skurril, wie der entdeckt wurde. Der damalige Lektor des Ungarischen Instituts Lászlo Kornya – er lebt heute, 92-jährig, in Debrecen - lehnte sich an einen alten Schrank im Flur des Gebäudes. Plötzlich öffnete sich das Schloss und heraus trudelten Tausende Papiere – Konzepte, Manuskripte, eine umfangreiche Korrespondenz. Man packte den wertvollen Schatz erst einmal in Kartons; zwar begann der ungarische Historiker und Archivar Dr. Gábor Ujváry mit einer ersten Sortierung und Katalogisierung, doch der Kreis derer, die Zugang zu dem Material hatten, blieb begrenzt.

Bis zum vorigen Jahr, als HU-Gastwissenschaftlerin Dr. Györgyi Brandt die Sache systematisch anzugehen begann. Die ungarische Wissenschaftlerin hatte an der ELTE Budapest bereits ihre Doktorarbeit über die Gründung des Lehrstuhls geschrieben, sie kennt sich im Schaffen Robert Graggers aus wie kaum jemand sonst. Außerdem, erzählt sie lächelnd, sei sie an der gleichen Schule in Budapest Schülerin gewesen, an der dieser Jahrzehnte zuvor unterrichtet hatte. Niemand wäre wohl mehr prädestiniert, den Nachlass wissenschaftlich aufzuarbeiten. „Das ist so eine Ehre, dass ich das lesen darf“, begeistert sie sich.

In den Dokumenten lässt sich eine wahre Erfolgsgeschichte studieren. Schon ein Jahr nach Gründung des Lehrstuhls 1916 etablierte Gragger das Ungarische Institut, schuf ein paar Jahre später eine finnisch-ugrische Abteilung, dann eine für Turkologie, gründete mit seinen 10.000 eigenen Bänden eine ungarische Bibliothek, die schon bald das Dreifache des Bestandes aufwies. Er rief Lektorate ins Leben, kümmerte sich um bauliche Veränderungen, lud Freunde und Fördererer der Ungarisch-Deutschen Gesellschaft ein, hielt Vorlesungen. „Nebenbei“ entdeckte er noch das älteste ungarische Gedicht, die „Altungarische Marienklage“ aus dem Mittelalter. Er ist auch derjenige, der den Begriff „Hungarologie“ prägte, damals allerdings noch ohne „H“ am Anfang.

Dieser Mann gehörte zu den seltenen Menschen, deren Aktivitäten für drei Leben gereicht hätten. Ein äußerst planvoll vorgehender Kopf, exzellenter Wissenschaftler, einer, der alle Fäden in der Hand hielt und zudem offenbar eine unwiderstehliche Ausstrahlung und Überzeugungskraft besaß. „Ein außerordentlicher Mensch“, fasst es Györgyi Brandt bündig zusammen.

In einem kleinen Zimmer des Ungarischen Lehrstuhls in der Berliner Dorotheenstraße sichtet, nummeriert, kategorisiert und digitalisiert sie jedes einzelne Blatt Papier. Sieben Kartons Leben, auf Ungarisch, Deutsch, Französisch, Englisch, denn auch in diesen Sprachen war der Gründungsvater des Instituts zu Hause. Da findet sich ein Brief Graggers an den damaligen ungarischen Kultusminister und Vertrauten Klebelsberg, in dem er Details zur Planung des Collegium Hungaricum darlegt. Oder ein Schreiben des deutschen „Kriegspresseamts“ von 1917 – man befand sich ja noch im Ersten Weltkrieg, mit Ungarn als deutschem Verbündeten – in dem Gragger um einen Vortrag zur österreich-ungarischen Monarchie gebeten wird. Auch sollte er eine Zusammenstellung des preußischen Bildungsetats als Muster für Ungarn liefern, was ihm nicht schwerfiel, da der damalige preußische Kultusminister Becker einer der eifrigsten Förderer und Freunde des jungen ungarischen Wissenschaftlers war.

Einer breiteren wissenschaftlichen Gemeinschaft den Zugang zu diesen einzigartigen Quellen zu ermöglichen und sie für weitere Forschungen verfügbar zu machen – diesem Ziel dient die Aufarbeitung und Digitalisierung des Nachlasses. Gefördert wird das von Dr. Rita Hegedüs geleitete Projekt im Rahmen des Zentraleuropanetzwerks CENTRAL, das 2014 auf Initiative der HU gegründet wurde. In diesem Verbund wollen die Universitäten Wien, Warschau, die Karls-Universität Prag und die ELTE Budapest ihre Zusammenarbeit in Lehre und Forschung, aber auch in der Verwaltung und Hochschulleitung intensivieren. „Die Stabsstelle Internationalisierung der HU“, sagt die Netzwerk-Koordinatorin Olga Böhm, „hat dafür beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) Mittel von rund einer Million Euro eingeworben.“

Autorin des Textes: Sabine Schneider

Weitere Informationen

Zentraleuropanetzwerk "Central European Network for Teaching and Research in Academic Liaison (CENTRAL)"

Kontakt

Olga Böhm
Stabsstelle Internationalisierung
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