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Abschied von Großbritannien?

Gerhard Dannemann, Leiter des Großbritannien-Zentrums der HU, über den "Brexit", mögliche Folgen - und was ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU für die Hochschulen bedeuten könnte
Europa-Fahnen wehen im Wind

Abbildung: Colourbox.de

Großbritannien ist in Aufruhr, seitdem eine Mehrheit der britischen Wähler sich für den Ausstieg aus der Europäischen Union entschlossen hat. Der niederländische Premierminister Mark Rutte, ein Freund Großbritanniens und seines Amtskollegen David Cameron, brachte es so auf den Punkt: Das Land „has collapsed politically, monetarily, constitutionally and economically“.

Die scheidende Regierung, die sich überwiegend für einen Verbleib einsetzte, hatte offenbar keinen Plan B. Die siegreichen "Brexiteers" hatten nicht einmal einen Plan A. Und die Oppositionspartei Labour hat sich durch einen neu entbrannten innerparteilichen Machtkampf ausgeschaltet. Außer der schottischen Ersten Ministerin Nicola Sturgeon, die nach einem sehr klaren Wahlsieg des „Remain“-Lagers in Schottland Morgenluft für die schottische Unabhängigkeit wittert, gibt es keine britischen Politiker, der derzeit mit Brüssel verhandelt.

Der "Brexit" und die Folgen

Erste Folgen des „Brexits“ sind bereits sichtbar. Das britische Pfund verzeichnete dramatische Kurseinbrüche und ist so schwach wie schon seit über dreißig Jahren nicht mehr. Dadurch hat Frankreich seinen Nachbar Großbritannien vom weltweit fünften Platz der Volkswirtschaften verdrängt. Die für die britische Wirtschaft so wichtige Finanzleistungsindustrie verlagert bereits Arbeitsplätze in bleibende EU-Länder. Die Kreditwürdigkeit Großbritanniens hat bei den Rating-Agenturen gegenüber der Bestnote AAA zwei Plätze eingebüßt.

Die Kampagne für den Ausstieg hatte miteinander Unvereinbares versprochen: weiterhin freien Zugang zum EU-Binnenmarkt ohne Verbindlichkeit von EU-Recht, ohne Beitrag zum EU-Haushalt und ohne Freizügigkeit. Aussagen der fünf Aspiranten auf die Nachfolge von Cameron lassen vermuten, dass der Widerspruch zu Lasten des Binnenmarktes aufgelöst und Großbritannien sich auf den vollen Ausstieg vorbereiten wird. Wohl niemandem ist die volle Tragweite der Aufgaben bewusst, die damit innerhalb von zwei Jahren nach der Ausstiegserklärung zu bewältigen sind. Die intensiven Verflechtungen zwischen EU-Recht und britischem Recht, die in über vier Jahrzehnten Mitgliedschaft entstanden sind, können die bisweilen schwerfälligen Gesetzgebungsorgane Großbritanniens und der EU in zwei Jahren nicht beseitigen. Der größere Teil dieser Zeit wird alleine für die Bestandsaufnahme der entstehenden Lücken, Probleme und Aufgaben draufgehen.

Deutsch-britischer Studienaustausch in Gefahr

Intensiv betroffen ist dabei die Kooperation mit britischen Hochschulen. Die Humboldt-Universität zu Berlin (HU) ist zu Recht stolz auf ihr internationales Profil. Aber ohne Mitgliedschaft Großbritanniens zumindest im Europäischen Wirtschaftsraum wird es keinen deutsch-britischen Studienaustausch über ERASMUS geben, können gemeinsame Abschlüsse beispielsweise mit dem HU-Kooperationspartner King’s College London an fehlenden Visa ebenso scheitern wie studienbegleitende Praktika in Großbritannien, wie sie namentlich für unseren MA British Studies erforderlich sind. Und auch eine deutsch-britische Forschungszusammenarbeit über den Europäischen Forschungsrat ist dann nicht mehr denkbar.

Eine Verlängerung der Zweijahresfrist zum Brexit ist möglich, würde aber schon am Veto eines einzigen Mitgliedsstaates scheitern. So bleibt als realistische Möglichkeit ein Zwei-Phasen-Modell, das Großbritannien nach Ablauf der zwei Jahren in einen Status überführt, der dem Norwegens oder der Schweiz ähnelt und damit genügend Zeit gibt, die rechtliche Entflechtung weiterzutreiben. In dieser Zeit könnte Großbritannien auch Handelsverträge mit den zahlreichen Ländern abschließen, mit denen es bisher nur über die EU vertraglich verbunden ist. Dann dürfte auch noch vor dem endgültigen Ausstieg eine Neuwahl des britischen Unterhauses stattfinden. Sie würde die Gelegenheit bieten, den künftigen Status Großbritanniens nochmals zu überdenken.

Zusammenarbeit muss gesichert werden

Andauernde Unsicherheit über den Status Großbritanniens ist nicht im deutschen, britischen oder europäischen Interesse. Ein forcierter oder gar feindseliger Abschied aber auch nicht. Deutsche Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen sollten jetzt erst recht mit den britischen Partnern zusammenarbeiten und nach Wegen suchen, wie man die überaus fruchtbare Zusammenarbeit in Lehre und Forschung trotz des bevorstehenden Ausstiegs sichern kann.

Autor: Gerhard Dannemann

Zur Person: Gerhard Dannemann ist Leiter des Großbritannien-Zentrum der HU. Das Großbritannien-Zentrum ist ein interdisziplinäres Forschungsinstitut, das neben seiner wissenschaftlichen Arbeit und dem postgradualen Studiengang Master in British Studies auch Veranstaltungen für die interessierte Öffentlichkeit und Informationen für die Medien zu aktuellen britischen Themen anbietet.

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Prof. Dr. Gerhard Dannemann
Zentralinstitut Großbritannien-Zentrum
Tel.: 030 2093-99048, 2093-99050
gerhard.dannemann@staff.hu-berlin.de