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„Krummes wird nicht begradigt“

Ein Gespräch mit Michael Wildt über sein Buch „Zerborstene Zeit“ und Wege, die er als Historiker geht, um neue Perspektiven auf vermeintlich Bekanntes zu erschließen.
Michael Wildt

Prof. Dr. Wildt, Foto: Cordia Schlegelmilch

Herr Wildt, sie widmen sich in ihrem Buch „Zerborstene Zeit“ der Deutschen Geschichte von 1918 bis 1945. Wie gewinnt man solch einem bereits gut erforschten Feld neue Facetten ab?

Michael Wildt: Was andere Historiker mit ihren umfassenden, detailreichen Darstellungen geleistet haben, muss nicht noch einmal berichtet werden. Ich versuche nicht, eine Geschichte zu erzählen, sondern viele. So sollen Dissonanzen sichtbar werden. Die Jahre von 1918 bis 1945 waren in Deutschland von extremen Gegensätzen und Widersprüchen geprägt. Diese löse ich nicht auf, sondern lasse sie als konstitutive Elemente einer Spannung bestehen.

Was trägt diesen Spannungsbogen?

Michael Wildt: Grundlage ist eine Veränderung der Perspektive. Die Wahrnehmung der Zeitgenossen hat in meinem Buch einen besonderen Stellenwert. Mehrere Tagebücher bilden gewissermaßen einen roten Faden durch die beschriebene Zeit. Neben bereits bekannten Namen wie Käthe Kollwitz oder Oskar Maria Graf kommen auch unbekannte Personen zu Wort. Luise Solmitz aus Hamburg etwa: Am Ende des Ersten Weltkrieges ist sie 29 Jahre alt, Tochter einer gutbürgerlichen Kaufmannsfamilie und vor ihrer Ehe als Volksschullehrerin tätig. Sie hat unter anderem die politischen Entwicklungen aufmerksam verfolgt und kommentiert. Ein weiteres Tagebuch stammt von Matthias Joseph Mehs, 1893 geboren, einem katholischen Gastwirt in der Eifel. Er wurde 1929 für das katholische Zentrum in die Stadtverordnetenversammlung von Wittlich gewählt und begann, die politischen Geschehnisse in der Region aufzuschreiben und zu reflektieren.

Wie entsteht aus subjektiven Aussagen einzelner ein – wenn auch fragmentiertes – Gesamtbild?

Michael Wildt: Ein Historiker muss im Umgang mit diesen Quellen umsichtig sein, denn sie stellen weniger ein Abbild der geschilderten Innen- und Außenwelt dar. Es handelt sich um ein stets empfundenes, reflektiertes, auch unbewusstes Schreiben der Selbsterforschung, Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung, auch der Selbstdisziplinierung. Spannend ist dabei, dass die Zeitgenossen einerseits ihre Gegenwart nur beschränkt wahrnehmen konnten. Sie erhofften und befürchteten, dass dieses oder jenes geschieht, auch wenn sie natürlich nicht wissen konnten, ob die Folgen daraus ihren Erwartungen entsprechen würden. Einige beschlich dann aber doch beizeiten eine Ahnung, die heute erstaunen kann. 

Wie gehen Sie mit den sich daraus ergebenden Widersprüchen um?

Michael Wildt: Ich habe in mein Buch unterschiedliche Wahrnehmungen und Sichtweisen nicht einfach integriert, sondern zeige ihre Unvereinbarkeit. Krummes wird nicht begradigt, Kontingentem nicht im Rahmen einer großen Erzählung ein sinnhafter Platz zugewiesen. Das bedeutet auch, das Fragmentarische der Geschichte, die unabdingbaren Leerstellen, all die zahlreichen Momente, über die wir nichts wissen, nicht zu übermalen, sondern ein Bild entstehen zu lassen, in dem auch die fehlenden Mosaiksteine nicht retuschiert werden.

Fehlende Mosaiksteine in einer solch intensiv erforschten Zeit?

Michael Wildt: Sexualität zum Beispiel ist ein Lebensaspekt, der in den Äußerungen aus jener Zeit im Prinzip nicht vorkommt. Im Kapitel zum Jahr 1930 aber ändert sich das zumindest ansatzweise. Darin stelle ich die Arbeits- und Freizeitverhältnisse insbesondere von jungen Frauen dar, zeichne vor allem den tiefen Einbruch im Alltag nach, den die Weltwirtschaftskrise verursachte. Ausgerechnet in diesem Kontext stößt man dann auch auf die Auseinandersetzung mit Sexualität – es ist aber eben eine Ausnahme.

Sie gehen immer wieder auch auf Fragen der Diversität ein. Welche Bedeutung hatte dieses aktuell viel diskutierte Thema damals?

Michael Wildt: Schwarze Menschen etwa lebten auch damals schon in Deutschland, das bis 1918 ja Kolonien in Afrika hatte. Die Kontroversen um race und gender erzähle ich am Beispiel der Tänzerin Josephine Baker, die 1926 ihren ersten Auftritt in Berlin feierte und zwei Jahre später vor den rassistischen Angriffen zurück nach Paris flüchtete. Auf dem Foto vor diesem Kapitel haben wir aber die berühmte Künstlerin ganz bewusst nicht abgebildet. Denn es gab ja auch viele andere Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland lebten. Als Beispiel hierfür sieht man auf dem besagten Foto Martin Dibobe aus der damaligen deutschen Kolonie Kamerun, mit seinen Kollegen von der Berliner Hochbahn.

Dass jedes Kapitel mit einem Foto eingeleitet wird, ist also ein wichtiger Teil des Konzepts?

Michael Wildt: Ja, Bilder sind in diesem Buch keine Illustrationen, sondern setzen einen eigenen visuellen Akzent. Die persönlichen Eindrücke aus den Tagebucheintragungen werden so auf einer anderen Ebene ergänzt, sodass die Leserinnen und Leser unmittelbarer angesprochen werden. Die Fotografien sollen auch dazu anregen, die eigenen bildlichen Erwartungen an die vermeintlich bekannte Epoche zu hinterfragen. 

Interview: Lars Klaaßen

Michael Wildt ist seit 2009 Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch „Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945“ ist 2022 im Verlag C.H.Beck erschienen: 638 Seiten mit 12 Abbildungen, gebunden, 32,- Euro.