„Oft stoßen Studierende die Debatten über Kolonialgeschichte an“
Herr Tödt, die Jury lobte Ihre Dissertation, weil sie nicht einfach koloniale Aggressoren und antikoloniale Kämpfer gegeneinanderstellt, sondern ein sehr differenziertes Bild der kongolesischen Gesellschaft zeichnet. Interessieren sich Kolonialismusforscherinnen und -forscher heute für andere Akteure als noch vor zehn, zwanzig Jahren?
Nach der Unabhängigkeit afrikanischer Staaten konzentrierte man sich auf den antikolonialen Widerstand, denn das war identitätsstiftend. Und in der Debatte über den Kolonialismus war es hilfreich, die Öffentlichkeit mit Berichten über die Gewalt der Kolonialherren wachzurütteln. Heute nimmt man Nuancen afrikanischer Stimmen ernster, ich habe zum Beispiel Zeitungen und Vereine der Bildungselite untersucht. Die Ergebnisse mögen zwar weniger erschütternd sein als Berichte über den Genozid in Deutsch-Südwestafrika, aber sie beleuchten den Rassismus der kolonialen Ordnung ebenso deutlich.
Warum haben Sie sich für die Eliten interessiert, also für Menschen, die den kolonialen Staat gestützt haben?
Lokale Eliten wurden lange als Kollaborateure abgetan. Meine Studie erzählt jedoch die Geschichte einer großen Enttäuschung. Die Kolonialmächte rechtfertigten ihre Herrschaft damit, dass die Afrikanerinnen und Afrikaner unabhängig werden könnten, sobald sie ausreichend „entwickelt“ wären. Sie sollten sich an eine idealisierte bürgerliche europäische Kultur anpassen. In Belgisch-Kongo folgten einige Menschen den Reformversprechen zunächst. Um zu den sogenannten évolués, den „Entwickelten“ zu gehören, musste man Tests ablegen und erniedrigende Hausbesuche über sich ergehen lassen, bei denen überprüft wurde, ob die Familie mit Messer und Gabel aß. Doch trotz aller Anstrengungen stießen die évolués irgendwann an die gläserne Decke kolonialer Hierarchien. Und das war der Moment, in dem viele zu Befürwortern der Unabhängigkeit wurden – Patrice Lumumba zum Beispiel, der spätere kongolesische Premierminister.
Warum ist es wichtig, kolonialen Denkmuster nachzugehen, zum Beispiel der Idee, Afrikanerinnen und Afrikaner seien „noch nicht so weit“?
Solche Denkmuster wirken bis heute. Zum Beispiel in der Debatte über die Rückgabe von Museumsobjekten, die in der Kolonialzeit geraubt wurden. Es gibt staatliche Pläne, dass die Objekte zurückgegeben werden müssen; da suggeriert man Augenhöhe mit den afrikanischen Partnern. Passiert ist allerdings nicht viel. Stattdessen wird weiter argumentiert: „Sie sind noch nicht so weit, um diese Objekte vernünftig zu konservieren und museal zu behandeln. Deswegen verwalten wir sie erstmal weiter.“ Das ist eine paternalistische Geste. Und das Argument zieht auch nicht mehr, denn viele afrikanische Länder haben mittlerweile moderne Museen eröffnet, zum Beispiel das „Musée des civilisations noires“ im Senegal oder das Nationalmuseum in der Demokratischen Republik Kongo. Natürlich sind mit der Restitution komplexe Fragen verbunden, zum Beispiel, wem man die Objekte zurückgeben sollte: den Nachfahren, einer bestimmten Gruppe oder dem Nationalstaat? Das darf aber nicht davon ablenken, dass wir Leichen im Keller haben. Die europäischen Museen – und viele Wissenschaftsdisziplinen – erlebten ihren Aufschwung im Zeitalter des Hochimperialismus und waren stark mit seiner Politik verflochten.
Welche Verantwortung erwächst daraus für die Wissenschaft?
Wir müssen uns dem kolonialen Erbe stellen. Auch in Fächern, die nicht so stark in der Debatte stehen, etwa die Naturwissenschaften. Der Tropenmediziner Robert Koch machte seine Karriere mit dem Rückenwind kolonialer Eroberungen. Wir müssen eurozentrische Begrifflichkeiten hinterfragen: In welchen Interaktionszusammenhängen entstanden Konzepte wie Moderne und was bewirken sie bis heute? Wir sollten von nationalen Erzählungen Abstand nehmen und Perspektiven umdrehen. Mich hat zum Beispiel schon als Studienanfänger gereizt, Gesellschaften in Afrika historisch und in Europa ethnografisch zu untersuchen – und nicht wie gewöhnlich andersherum. Und bei aller wissenschaftlichen Sorgfalt: Forschung darf kein Spiel auf Zeit sein, mit der man die Rückgabe von Museumsobjekten verzögert. Das ist ein Eisen, das jetzt heiß ist und das jetzt geschmiedet werden muss.
Hat sich an den Universitäten bereits etwas verändert?
Es gibt eine neue Dynamik, in der zum Beispiel auch die Rolle Alexander von Humboldts als Namenspatron der Humboldt-Universität kritisch diskutiert werden kann. Am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften merke ich, dass für viele Studierende die Politisierung unseres Fachs und sein Aktualitätsbezug leitend sind. Sie verfolgen die Debatten und prägen sie mit. Es gibt etwas mehr Geld für kolonialhistorische Projekte, zum Beispiel in der Provenienzforschung oder der Stadtgeschichte. Einige Projekte beziehen lobenswert Institutionen in Afrika ein. Zivilgesellschaftliche Gruppen, deren Verdienst es ist, dass die Debatte so stark in der Öffentlichkeit geführt wird, haben wenig davon, wenn Forschungsgelder exklusiv an die Universitäten gehen. Immer wieder sind es Studierende, die auf solche Missstände aufmerksam machen und Veränderungen einfordern. Und: Wenn die Politik mehr Afrika-Wissen fordert, sollte bei Kürzungsrunden nicht der Rotstift bei den Regionalwissenschaften angesetzt werden.
Interview: Stefanie Hardick
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Webseite des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften an der HU