Presseportal

Vom Guten des Merkwürdigen

Die Psychologie der Mahlzeit untersuchte Psychologie-Professor Werner Sommer in einem spanischen Spitzenrestaurant

Werner Sommer wölbt sich ein kleiner Hügel geschäumten Wassereises entgegen, darüber empfiehlt der Koch eine Sauce aus Krebsschalen zu geben. Einige Jahre ist das her, dass Sommer, Professor für Biologische Psychologie an der Humboldt-Universität, ungläubig auf diese seltsame Kreation hinabblickte. Dennoch erinnert er sich an jedes Detail, sogar an den Geschmack. „Im Grunde war das ein Eisberg mit Krebs – null Nährwert und wohlschmeckend war es auch nicht unbedingt“, berichtet der Psychologe und lächelt verschmitzt. Und dennoch, die Erfahrung, die der Forscher in einem spanischen Spitzenrestaurant machte, ist abgespeichert, irgendwo in Sommers Gehirn aufbewahrt als mnemonisches Kleinod. „Woran liegt es, dass etwas im Gedächtnis hängen bleibt? Was sind die bestimmenden Faktoren dafür, dass man sich gerne an etwas erinnert? Das sind Fragen, die mich umtreiben.“

Mahlzeiten als Erlebnisraum

Sich der Psychologie der Mahlzeit anzunähern, das ist seit rund zehn Jahren ein wichtiges Projekt für den Wissenschaftler. Damals fuhr er zu einer Konferenz ins Baskenland, einem „Hotspot der Kulinarik“, kam mit Restaurantchefs ins Gespräch. „Als die ihre Konzepte darlegten, wurde mir klar, dass es da nicht um Kalorien geht, nicht einmal um wohlschmeckendes Essen. Den Besten geht es darum, einen Erlebnisraum zu schaffen“, analysiert der Wissenschaftler. „Der Kontext der Mahlzeit ist bislang aber kaum untersucht worden, zumeist ging es vorrangig nur darum, ob eine Speise oder Zutat gut schmeckt oder nicht.“

„Erlebnisräume schaffen!“, so könnte der inoffizielle Slogan des Restaurants im Baskenland lauten, das kürzlich seine Türen für Sommers Forschung öffnete. Hier ersinnen die Erfinder des Eisberges mit Krebs, Andoni Aduritz und seine Mitarbeiter, jedes Jahr in einem viermonatigen Tüftelprozess ein Menü, von dessen Einzigartigkeit sich Gäste sodann acht Monate lang überzeugen können. Regelmäßig wird das Mugaritz in die Top Ten der besten Restaurants der Welt gewählt. Im Zeitraum der Sommerschen Studie durften sich Besucher unter anderem von Macarons mit Schweineblut, fermentierten Bananen und einer Art Rindergummibärchen in Form eines stilisierten Kuhkopfes überraschen lassen.

Das Dessert muss stimmen

„Wir hatten viele verschiedene Forschungsfragen. Unter anderem wollten wir wissen, inwiefern die Persönlichkeitsstruktur kurzfristig und langfristig Einfluss auf das Erleben der Mahlzeit nimmt“, erläutert Sommer. Die Reaktionen der Versuchspersonen auf Banane, Blutkeks und Co. zeichneten auf dem Tisch montierte Kameras auf, nach jedem Gang tippten die Gäste zudem ihre persönlichen Eindrücke ins Smartphone. Auch stellten sie beim Zeichnen ihre Kreativität unter Beweis, pusteten in ein Alkoholmessgerät und ließen bei Tests ihre Persönlichkeit vermessen. Das überraschende Ergebnis: letztere spielte für die unmittelbare Einschätzung der Mahlzeit so gut wie keine Rolle. Der Alkoholpegel allerdings auch nicht. Und nicht einmal die Anzahl der relativ wohlschmeckenden Gänge. Aber: was denn dann?

„Es kommt auf ganz bestimmte Gänge an. Wenn das Dessert stimmt, dann braucht der Rest nicht ganz so toll zu sein. Das ist der sogenannte End State Effekt“, sagt Sommer. Der Term bezeichnet die kuriose Tatsache, dass sich die Eindrücke, die am Ende eines Prozesses gewonnen werden, überdurchschnittlich stark auf die Gesamterinnerung auswirken. „Wenn zum Beispiel der Zahnarzt den Bohrer ansetzt und direkt nach dieser Schmerzerfahrung gehen Sie nach Hause, behalten Sie das als relativ negatives Erlebnis in Erinnerung. Wenn aber nach dem Bohren noch eine Zahnreinigung gemacht wird, die nicht weh tut, dann erinnern Sie später das Ganze als weniger schmerzhaft.“ Analoges trifft auf positive Erlebnisse zu, weiß der Forscher. „Darum kann man Köchen nur raten, einem Gast, der mit dem Essen unzufrieden war, zum Schluss noch etwas Erfreuliches anzubieten – einen kostenlosen Kaffee zum Beispiel. Was am Ende passiert, ist ganz entscheidend.“

Zusätzlich seien es in einer längeren Erlebnissequenz die Spitzenerlebnisse – im Positiven wie im Negativen – die sich stark auf die Gesamtbewertung auswirken. „Das Gedächtnis berechnet keine Mittelwerte.“ Wohlgeschmack spiele interessanterweise nur kurzfristig eine wichtige Rolle für den Gesamteindruck, später aber träte das zugunsten des Ungewöhnlichen, des im wahrsten Sinne des Wortes Merk-Würdigen, in den Hintergrund. „Was langfristig das positive Erleben bestimmt, ist, wie interessant etwas war. Dazu muss es nicht unbedingt „lecker“ gewesen sein.“

Achtsamkeit und Tischgenossen

Neben den Gerichten selbst haben den Psychologen vor allem Resultate im Bereich des Zwischenmenschlichen verblüfft. „Am Tisch waren die Versuchspersonen, die dort jeweils zu viert saßen, ziemlich einer Meinung – das ist kein Wunder.“ Drei Monate später hätte der Psychologe allerdings damit gerechnet, dass die Bewertungen stärker auseinandergehen. „Das Gegenteil trat ein. Da herrschte nach drei Monaten mehr Konsens als in der Situation selbst.“ Warum das so ist? Ein Rätsel. Ein weiteres Rätsel ist der geringe Einfluss von Persönlichkeitsfaktoren auf das unmittelbare Erleben.

Zwei Persönlichkeitskomponenten wirkten sich immerhin langfristig auf die Bewertung des Erlebten aus, ermittelten Sommer und seine Kollegen. „Menschen, die besonders zugewandt und freundlich sind, erinnern sich nach drei Monaten positiver an das Restauranterlebnis. Bei Menschen, die eher zu Selbstkontrolle und Genauigkeit neigen, ist es genau umgekehrt.“ Sommers Tipp für Restaurantgänger, die positive Erinnerungen sammeln wollen? „Achtsamkeit. Je abgelenkter jemand beim Essen ist, desto weniger positiv bewertet er es. Das Smartphone lässt man also besser zu Hause.“ Zudem sei es von Vorteil, Tischgenossen zu wählen, die „nicht immer nur rummosern“, sagt Sommer und lacht.

Publikation

Munoz, F., Hildebrandt, A., Schacht, A., Sturmer, B., Brocker, F., Martin-Loeches, M., & Sommer, W. (2018). What makes the hedonic experience of a meal in a top restaurant special and retrievable in the long term? Meal-related, social and personality factors. APPETITE, 125, 454-465. doi:10.1016/j.appet.2018.02.024

Weitere Informationen

Video-Dokumentation im Restaurant

Kontakt

Prof. Dr. rer. soc. habil. Werner Sommer

Lebenswissenschaftliche Fakultät - Institut für Psychologie
Biologische Psychologie
Humboldt-Universität zu Berlin

Tel.: 030 2093-4886
werner.sommer@rz.hu-berlin.de