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Östlich des Eisernen Vorhangs

Was vor 50 Jahren, während des Prager Frühlings, an der Humboldt-Universität geschah

Großkundgebung

Foto: Dargelis, HU Archiv; Signatur: HU UA, Fotosammlung -
Hochschulfilm- und Bildstelle, „Großkundgebung (Volksentscheid)“,
5.04.1968, Nr. 493/7

1968 war sowohl östlich als auch westlich des Eisernen Vorhangs ein bewegtes Jahr. Die Ereignisse in Westberlin, den Tod von Benno Ohnesorg und die Studentenproteste, die sich gegen den Vietnam-Krieg und gegen den „Muff von 1000 Jahren“ richteten, beobachtete die Humboldt-Universität sehr genau und deutete sie als eine Intervention der „imperialistischen“ Kräfte in der Bundesrepublik. In der Humboldt-Zeitung, dem offiziellen Propaganda-Organ der Kreisleitung der SED an der Universität, erschienen umfangreiche Artikel über die APO-Bewegung und die Unruhen auf den Straßen West-Berlins. Zeitgleich wurde im Osten der 20. Jahrestag der Gründung der DDR vorbereitet, und nur wenige Tage bevor man auf Rudi Dutschke schoss, versammelten sich Unter den Linden vor dem Hauptportal der Universität Demonstranten, um ein klares „Ja“ zur revidierten Verfassung des „sozialistischen Staates deutscher Nation“ (Art. 1) zum Ausdruck zu bringen.

Offizielle Position der Berliner Universität

Umgekehrt nahmen westliche Beobachter intensiv wahr, was wenige Monate später in Prag passierte. Am 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Paktes über den Wenzelsplatz, um „Ordnung“ wiederherzustellen und das tschechoslowakische Experiment eines reformbereiten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wieder zu den Akten zu legen. Danach begannen die Repressalien im gesamten Ostblock. Die Reaktionen an der Berliner Universität waren schnell und eindeutig: trotz Urlaubszeit verfassten fast alle Fakultäten, Institute und Bereiche ihre Stellungnahmen zu den Ereignissen in Prag, eine offizielle Position bezog auch die SED-Kreisleitung an der Universität. Die Verurteilung der „globalstrategischen Konterrevolution“ in Prag und die Unterstützung für die militärischen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung war Programm und wurde von allen eingefordert, von den Dekanen bis hin zu den Garderobenfrauen.

Erklärung der Garderobenfrau
Foto: HU Archiv, Signatur: HU UA, Rektorat I 1945-1969, Nr. 775 Von einer Garderobenfrau
unterschriebene Erklärung (Unterschrift wegretouchiert)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In den Telegrammen des Rektors an das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen kann man zwischen den Zeilen erkennen, dass diese offizielle Linie keineswegs eine Diskussion ausschloss oder gar zu verhindern vermochte – Kritik am Einmarsch der „Bruderländer“, an der (mutmaßlichen) Beteiligung der NVA sowie an der Verfolgung Alexander Dubčeks und seiner Anhänger gab es hinter vorgehaltener Hand, sie fand aber nicht ihren Weg in erhalten gebliebene Akten und Protokolle. Im September war der „Prager Frühling“ durchaus noch im Gespräch, danach verschwand das Thema von der Tagesordnung.

Relegation von Studierenen und Lehrenden

Einzelne jedoch waren von den Ereignissen direkt betroffen. Studierende, die an den Demonstrationen teilgenommen oder Flugblätter gegen den Einmarsch des Militärs verteilt hatten, wurden relegiert, das heißt zeitweise oder permanent von der Universität und allen anderen Universitäten der DDR ausgeschlossen. Prag beflügelte trotzdem die Bildung von studentischen „Dissidenten-Gruppen“, die noch bis in die 1970er Jahre infiltriert, beobachtet und verfolgt wurden. Weitere Relegationen folgten, zudem mehrten sich Bestrafungen wegen versuchter „Republikflucht“.

Es traf auch Dozenten, ein Beispiel dafür war Othmar Feyl, zu diesem Zeitpunkt Professor für Bibliothekswissenschaft. Der in der Tschechoslowakei geborene Wissenschaftler trat aus Protest gegen die gewaltsame Zerschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung aus der SED aus und wurde damit als Hochschullehrer untragbar. Man warf ihm Versagen vor, er selbst verzichtete auf seine Lehrbefugnis und wurde nach längerer Beurlaubung schließlich an die Universitätsbibliothek versetzt, wo er bis zu seiner Emeritierung mit der Erstellung einer Bibliographie zur Geschichte der HU beschäftigt war.

Hochschulreform für ein sozialistisches Bildungssystem

An der Universität widmete man sich währenddessen verstärkt der bereits begonnenen III. Hochschulreform. Diese sollte die Agenda über das Jahr 1968 hinaus dominieren. Die bereits 1963 eingeleitete Reform, die ein einheitliches sozialistisches Bildungssystem schaffen sollte, veränderte die Verwaltungsstruktur der Universität grundlegend, mit dem Ziel die Effektivität der Forschung und Ausbildung zu verbessern. Das Studium wurde neu gegliedert, neue Leitungsstrukturen geschaffen, die Fakultäten durch Sektionen ersetzt.

Die Forschung wurde größtenteils aus der Universität ausgegliedert, in Perspektivpläne kanalisiert und auf Lehre und Ausbildung verkürzt. Die Reform wurde vom Rektor vorangetrieben, die Entscheidungen lagen bei der Kreisleitung der SED. Jahrhundertealte Traditionen und Strukturen der Universität wurden demontiert. Viele dieser Ereignisse lassen sich anhand der erhaltenen Akten rekonstruieren, die im Archiv der HU aufbewahrt werden – einige andere wenigstens erahnen. Leider sind zentrale Überlieferungen – beispielsweise der SED- oder der FDJ-Kreisleitung – aus diesen bewegten Jahren der Humboldt-Universität nicht ins Archiv überführt worden. Es ist davon auszugehen, dass sie die Wendezeit nicht überdauert haben. 

Autorin: Dr. Aleksandra Pawliczek

Kontakt

Dr. Aleksandra Pawliczek

Universitätsarchiv - Leitung

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