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"Ich gehe davon aus, dass Zeit nicht einfach da ist"

Das Sommerthema 2019 widmet sich der Frage "Wie wollen wir zusammen leben?" Wir stellen Forscherinnen und Forscher vor, führen Interviews und suchen Antworten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, u.a. soziologisch, ethnologisch, wirtschaftswissenschaftlich und naturwissenschaftlich. In Folge 1 porträtieren wir Prof. Dr. Silvy Chakkalakal, die im September auf der internationalen Konferenz zum Thema "In and Beyond the City: Emerging Ontologies, Persistent Challenges and Hopeful Futures“ das Panel Stream „Un/Doing Future: Anticipatory Practices, Aspirational Politics“ in Delhi mitorganisiert.

Silvi Chakkalakal
Prof. Dr. Silvy Chakkalakal promovierte über die sich
gegenseitig bedingende Konzeptualisierung von Kind und Bild
und die Bedeutung des Bilderbuchs. Foto: Laura Fiorio/HKWe

Silvy Chakkalakal sieht sich gerne das Normale an. Das, was eine Gesellschaft grundlegend bestimmt, aber nicht hinterfragt. Zum Beispiel die Zeit. „Ich gehe davon aus, dass Zeit nicht einfach da ist“, sagt die Juniorprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie und am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Museen beispielsweise würden durch bestimmte Objekte und deren Beschreibungen eine Zeitordnung herstellen. „Kuratorinnen und Kuratoren praktizieren Zeit, die sie in materielle Artefakte einschreiben – und diese Praktiken müssen wir reflektieren.“

Tübingen – London – Berlin

Weil man Selbstverständlichkeiten hinterfragt, auch deshalb hat sie sich „sofort in dieses Fach verliebt. Und das ist bis jetzt so geblieben.“ In Tübingen studiert sie Empirische Kulturwissenschaft und Komparatistik. Während eines Auslandsstudiums in London wird sie gefragt, ob eine Promotion nicht eine Option sei. Chakkalakal, die in einem Arbeitermilieu aufwächst, die Eltern aus Südindien, finanzierte ihr Studium immer mit selbst und „musste in diese Idee erst mal reinwachsen“.

Für ihre Promotion am Institut für Europäische Ethnologie an der HU, gefördert durch ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung, sucht sie sich wieder ein vermeintlich alltägliches und zudem populärkulturelles Thema: Bilderbücher. Sie untersucht ein Buch aus dem 18. Jahrhundert, das die Welt mithilfe von Bildern aus wissenschaftlichen Abhandlungen erklärt, mit Zeichnungen aus der Botanik oder der Zoologie. Es richte sich an Kinder, sei aber ganz anders sei als heutige Bilderbücher. „Ich interessiere mich dafür, wie Wissen gebildet wird, und gerade in Bildern wird Sinn ganz anders erstellt als in anderen Medien.“ Der interdisziplinäre Zugang zu einem Thema, die Verbindung von Medien- und Kunstwissenschaften und der Ethnologie habe sie begeistert.

Der Text ist nicht genug

Noch während ihrer Promotion bewirbt sie sich auf eine Forschungsstelle in Basel. Im Mittelpunkt des Projekts steht die US-amerikanische Kulturanthropologin Margaret Mead. „Mead und andere Kulturrelativisten warfen einen ästhetischen Blick auf das „kulturell Andere“ – das kann man natürlich auch total kritisieren“, sagt Chakkalakal. Mead hätte Ethnographie auch als künstlerische Praxis verstanden. Auf Blättern mit ihren ethnographischen Aufzeichnungen notierte sie auf der Rückseite eigene Gedichte: „Für Mead war Text nie ausreichend für das, was sie erlebte. Sie legte den Fokus eben auf alles, was das Leben ausmacht, auch auf Gefühle, Poesie, Kunst.“

Mit dieser Idee scheint sich Chakkalakal zu identifizieren: Nur Text, nur eine Disziplin, nur eine Richtung auf der Zeitachse reichen ihr nicht, um die Welt zu beschreiben. Deshalb arbeitet sie als Professorin für Europäische Ethnologie und für Gender Studies zwischen den Disziplinen; deshalb richtet sie ihren Blick nicht nur in die Gegenwart und die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft.

Aktuelles Projekt: Die Zukunft

Zukunft und Vergangenheit spielen auch in ihren zwei aktuellen Projekten eine Rolle: Im September leitet sie bei einer Konferenz zum Thema Stadt in Delhi gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Kulturgeographin Julie Ren, drei Panels. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt werden Projekte vorstellen, wie Megastädte wie Mexiko City, Bangalore oder São Paulo über die Zukunft nachdenken und sie antizipieren.

Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Princeton University wird sie in den nächsten zwei Jahren deren Archive untersuchen. Der strategische Partner der HU arbeite gerade die eigene Geschichte der Sklaverei auf. Chakkalakal will das archivierte Wissen gegen den Strich lesen und „Formate finden, die keine so eindimensionale Zeitlichkeit haben. Wir wollen mit einer queeren, transnationalen Perspektive auf das Archiv blicken.“ Wie wird Wissen gebildet, wie werden Wissensordnungen festgelegt, wie wird das „kulturell Andere“ archiviert, diesen Fragen will die Europäische Ethnologin in dem Projekt weiter nachgehen.

Hinterfragen welche Geschichten erzählt werden – und welche nicht

Bildung, Geschlecht, Zukunft, das sind die drei Themen, die sich durch Chakkalakals Forschung ziehen. Grundlegend sei dabei immer eine postkoloniale Perspektive, die Geschlechterfragen im Blick habe. „Sowohl die Gender Studies als auch die Ethnologie sind politische Fächer: Beide fragen und hinterfragen, welche gesellschaftlichen Ordnungen erstellt werden, welche Geschichten erzählt werden und welche nicht, und mit welchen Kosten das für bestimmte Gruppen verbunden ist.“

Als politische Fächer seien die Europäische Ethnologie und die Gender Studies direkter von politischen Stimmungen betroffen. Der ungarische Premierminister Viktor Orbán verbot im letzten Jahr die Gender Studies an den ungarischen Universitäten und auch hierzulande sind die Gender Studies in den letzten Jahren vermehrten Anfeindungen ausgesetzt. Umso wichtiger sei die internationale Zusammenarbeit: „In diesen Zeiten ist es nicht schlecht, sich politisch und inhaltlich gemeinsam aufzustellen.“ Als genaue Beobachterin des Alltags sagt sie zu den Angriffen auf die Wissenschaft aber auch: „Andere Bevölkerungsgruppen kennen diese Angriffe schon seit langem. Sie basieren auf gesellschaftlichen Ordnungen, die sich zum Beispiel auch im Bildungssystem in Form von ungleicher Behandlung artikulieren und sich hier immer wieder neu herstellen.“ Die Europäische Ethnologie leuchte diese Mechanismen aus. Silvy Chakkalakal macht das, indem sie unsere Normalität unter die Lupe nimmt.

Autorin: Anne-Sophie Schmidt