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Entschieden für die Endlichkeit

Das Exzellenzcluster Matters of Activity setzt auf eine neue Kultur des Materialen

Matters of Activity
Foto: Bild Wissen Gestaltung

Konsequenter kann man die Idee der Trennung von Körper und Geist eigentlich nicht in ein Produkt umsetzen. Im Silicon Valley des 21. Jahrhunderts hat sich der Geist gleichsam des Körpers entledigt, „leben“ Algorithmen ohne Verfallsdatum auf immer neuen, verschleißenden Festplatten. So verführerisch scheint einigen dieses Unsterblichkeitsmodell zu sein, dass ein Start-up es nun gar auf den Menschen übertragen will, indem es das Gehirn, vielmehr: dessen Denkaktivität, in eine Cloud hochladen möchte. Der Körper als Trägermaterial einer unsterblichen Information, beliebig austauschbar oder sogar ganz und gar überflüssig?

Einem radikal anderen Blick auf die Welt der Materie kann man in der Sophienstraße in Berlin-Mitte begegnen. Hier befinden sich die Räumlichkeiten des Exzellenzclusters Matters of Activity, der im Januar 2019 die Arbeit aufgenommen hat. Schon der Name zeigt: Materie wird hier nicht als etwas Passives verstanden, das nach Maßgabe eines externen Willens funktionieren muss und bei Versagen verschrottet wird, sondern als etwas Eigengesetzliches, dessen Regungen bejaht und als produktiv betrachtet werden. Wolfgang Schäffner, Professor für Wissens- und Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist Sprecher des neuen Exzellenzclusters. Die westliche Postmoderne, deren Blick auf das Materiale er und seine Mitstreitenden verändern wollen, begreift er als geprägt von einer Kultur des Konservierens. „Veränderung ist in unserer gegenwärtigen Kultur des Materialen nicht vorgesehen, die Aktivität eines Materials will man also meist ausschalten. Ein Tisch aus Holz soll genau so bleiben, wie er ist, und nicht mit der Zeit aus dem Leim gehen; Eisen korrodiert, man braucht einen Korrosionsschutz.“

Fokussiert im Diesseits

Alterungsprozesse aufhalten zugunsten eines Ideals starrer Unvergänglichkeit – in einem nach Unordnung strebenden Universum ist das ein Kampf auf verlorenem Posten. Dass man Artefakte auch ganz anders denken kann, zeigt der Philosoph, Literaturwissenschaftler und Medizinhistoriker, indem er die europäische Haltung mit einem Beispiel aus Fernost kontrastiert. „Japanische Schreine stehen unter Denkmalschutz wie viele Gebäude hierzulande auch, werden aber alle 20 Jahre abgerissen und dann neu aufgebaut“, sagt Schäffner. Der Forscher bezieht sich auf eine Tradition im Rahmen der Naturreligion Shintoismus, die im Gegensatz zu den meisten europäischen Denktraditionen auf das Diesseits fokussiert. „Dort ist es also der Bauprozess, der bewahrt wird, während wir die Objekte der Vergangenheit selbst wie Leichen konservieren.“ Eine Kultur des Einbalsamierens, die dem Tod so mindestens symbolisch ein Schnippchen schlagen will?

Die historischen Ursprünge der Neigung zum übermäßig haltbaren Produkt verortet Wolfgang Schäffner vor allem im 19. Jahrhundert. „Das war die Zeit der Eisenbahn, der Mechanik, von Beton und Stahl, von passiven, harten und starren Materialien.“ Prinzipien von damals hätten auch im 20. Jahrhundert Gültigkeit gehabt und fänden sogar heute noch Anwendung. Unter anderem im Gebrauch schwer recycelbarer Materialien, die oft bereits in der Herstellung übermäßig viel Energie verschlingen. Material würde hier ausschließlich passiv gedacht und müsste „gegenüber einem Befehlsgeber stillhalten, wie ein Sklave. Das ignoriert eine Intelligenz, die in der Sache selbst liegt, was extrem viel Energie kostet.“ Gemeint ist, dass in einem solchen Design das Einwirken von Umweltfaktoren – Sonneneinstrahlung, Feuchtigkeit, Temperaturschwankungen – kostenintensiv unterbunden wird.

„Das Auto war niemals als Massenprodukt gedacht“

Solche Warendesignideen sind heute Basis einer globalen Industrie, die jedes Jahr ihre Erträge steigert. Verhängnisvoll ist das nicht nur in Hinblick auf die stetig wachsenden Plastikmüllgebirge. „Um ein konkretes Beispiel für dieses Denken in der Produktion zu nennen: Das Auto ist das Erbe der Eisenbahn, eine historische Altlast, die wir mit uns herumschleppen. Wir bauen da etwas, das eine Tonne schwer ist, um ein Objekt von unter 100 Kilogramm zu bewegen“, betont Wolfgang Schäffner und schüttelt den Kopf. „Noch dazu war das niemals als Massenprodukt gedacht. Dazu kann man nur sagen, dass die gegenwärtige Technologie in Hinblick auf die Gestaltung das Spiel von vornherein verloren hat. Ingenieurstechnisch steckt zwar eine Menge Know-how dahinter. Aber Matters of Activity denkt in einer ganz anderen Richtung.

Wo der Mensch nach wie vor gern Entwürfe in Beton gießt, arbeiten natürliche Systeme meist mit abbaubaren, adaptiven Materialien. „Die Dinge gehen in der Natur vielleicht nicht so schnell wie bei einem Flugzeug und mit Holz kann man vielleicht nicht ganz so hoch bauen – dafür ist das energetisch viel nachhaltiger“, sagt Wolfgang Schäffner. Hochkomplexe Strukturen würden in biologischen Systemen häufig durch die situativ anpassbare Architektur eines einzigen Stoffes, etwa eines Faserstoffes wie Zellulose, erreicht. Solche Materialien und Systeme, die an und in ihnen stattfindenden Prozesse des Webens, Schneidens und Filterns, will das Forscherteam untersuchen, in ihrer Funktionsweise besser verstehen und auf Adaptierbarkeit hin untersuchen, um so Alternativen in Hinblick auf überkommenes Objektdesign zu entwickeln.

Nachhaltig: Natürliche Materialien arbeiten energieeffizient

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für einen adaptiven Prozess, der im Cluster untersucht wird: der Biofilm. Dieser besteht aus einer Schleimschicht, in der Mikroorganismen unterschiedlichen oder gleichen Typs leben, über chemische Signale miteinander kommunizieren und je nach Situation kollektiv ihr Verhalten anpassen. So schützen sich die Mikroorganismen gegenseitig vor dem Verhungern oder helfen sich im Kampf gegen Angreifer. Fast keine wässrige Grenzfläche – ob Schneidezahn, Waschbecken oder Waldboden – ist vor dem blitzschnellen Entstehen solcher Verbünde sicher. Dreidimensionale Struktur und Wachstum von Biofilmen hängen ganz und gar von den spezifischen Umweltbedingungen ab. Aufgrund ihrer strukturellen Komplexität lassen sie sich mathematisch bislang nicht beschreiben. „Schon ein Häufchen Bakterien baut also Strukturen, die unsere bisherigen Vorstellungen von Code und Intelligenz überfordern“, resümiert Schäffner und zeigt so das große Potenzial entsprechender Grundlagenforschung auf.

Bislang sei die Intelligenz von Systemen stets in digitale Steuerungen ausgelagert worden. „In der Natur gibt es eine solche Trennung von Arbeits- und operativer Einheit aber nicht. In jeder Holzstruktur, in jedem Blatt, steckt Code – nicht nur in der DNA.“ Struktur und Funktion hingen hier zusammen, ließen sich nicht voneinander trennen. Ziel des Clusters sei es insofern, das Analoge in seiner transdigitalen Qualität sichtbar zu machen. „Unser Kampf heißt heute Anthropozän. Herkömmliche Artefakte durch Äquivalente aus abbaubaren Stoffen wie Zellulose oder Zuckern zu ersetzen, ist das Optimum, das wir als Weltgemeinschaft perspektivisch erreichen können. So würden wir vermeiden, dass weitere Müllberge entstehen, die sich nicht mehr in den Wertstoffkreislauf rückführen lassen.“ Mit interdisziplinärer Grundlagenforschung zu Struktur und Aufbau solcher vergänglichen Materialien hofft der Cluster, die Welt dieser Zukunft einen Schritt näher zu bringen.

Autorin: Nora Lessing

Über Matters of Activity

Hier arbeiten Forscherinnen und Forscher aus mehr als 40 Disziplinen in sechs Teilprojekten daran, die Grundlagen für eine neue Art des Denkens in Hinblick auf das Materiale zu schaffen. Zentral ist die Vision, die Objektwelt nicht wie bislang üblich passiv und starr, sondern im Sinne aktiver, veränderlicher und recycelbarer Baustoffe zu denken. Als Inspirationsquelle für mögliche Designs der Zukunft dienen unter anderem Faserstoffe und komplexe biologische Systeme. Gedanklich steht der Cluster der Humboldt-Universität dabei dem Bauhaus ebenso wie der akademischen Strömung des Neuen Materialismus nahe.

Weitere Informationen

Exzellenzcluster Matters of Activity

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