„Je mehr Experimente, desto besser!“
Teamsitzung: Frauke Stuhl, Andreas Geißler, Friedrich von Bose,
Gorch Pieken und Katja Widmann (v.l.n.r.) Foto: Matthias Heyde
Wenn das Humboldt Forum im Berliner Stadtschloss eröffnet, wird dort auch die Humboldt-Universität zu Berlin (HU) mit einer Ausstellung in eigenen Räumen auf etwa 750 Quadratmeter Fläche vertreten sein. Die Schau soll einen Beitrag zu zentralen Themen der Gegenwart leisten – Studierende, Forschende, Besucherinnen und Besucher können sich dabei einbringen. Einblicke in die Planung gibt Dr. Gorch Pieken, der leitende Kurator.
Herr Dr. Pieken, womit befasst sich die Auftaktaustellung?
Sie wird sich hauptsächlich mit den gegenwärtigen politischen und wissenschaftlichen Herausforderungen des sogenannten Anthropozäns befassen und diesbezüglich insbesondere mit den Beziehungen zwischen Menschen, Umwelt und Ordnungen.
Mit welchen Partnern und Disziplinen aus der Universität arbeiten Sie und Ihr Team dafür zusammen?
Die Räume der HU im wiedererrichteten Stadtschloss werden ein Forum für die gesamte Universität sein. Wir arbeiten mit vielen Fachdisziplinen und Instituten sowie mit fünf Exzellenzclustern, die 2018 bewilligt wurden und an denen die HU beteiligt ist, zusammen. Wichtig ist uns auch die Kooperation mit anderen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen; sie erweitert das Themenfeld, ermöglicht die Leihnahme von seltenen Objekten und Dokumenten und vergrößert Spielräume durch Teilung der Aufwendungen.
Geplant ist auch der enge wissenschaftliche Austausch mit außereuropäischen Partnern. In welcher Form werden sie mitwirken?
In allen Bereichen der Ausstellung findet die Arbeit im internationalen Rahmen statt. Wenn die Besucherinnen und Besucher die Ausstellung betreten, dann erwartet sie eine Welt des Perspektivenwechsels. Globale Phänomene werden bis auf regionale Ebenen heruntergebrochen. Der Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“, mit dem wir zusammenarbeiten, kooperiert beispielsweise mit wissenschaftlichen Einrichtungen in der ganzen Welt und arbeitet auf der Basis der „doppelten Reflexivität“.
Was bedeutet das?
Damit ist unter anderem gemeint, dass die Forschenden selbst Teil eines westlich/westeuropäisch geprägten Wissenschaftsbetriebs sind und dass sie sich dessen bewusst sind. Die doppelte Reflexivität ist hierbei auf mindestens zwei Ebenen relevant: auf der thematischen sowie auf der Ebene der Fragestellungen und Methoden, die von ersterer natürlich nicht zu trennen ist. Wie dem Cluster dient auch uns diese Perspektive dazu, sich kritisch mit der eigenen Wissensproduktion auseinanderzusetzen und Wissenschaft immer auch im Kontext noch immer existierender globaler kolonialer Machtverhältnisse zu beleuchten.
Wie wird die Ausstellung aussehen?
Sie wird kein großes museales Stillleben sein. Stramme Wegführungen werden durch Netzwerke ersetzt, die es den Besucherinnen und Besuchern ermöglichen, Zusammenhänge herzustellen. Die Ausstellungsgestaltung soll sie motivieren und in die Lage versetzen, Spuren zu lesen – je mehr Experimente, desto besser. Die Gestaltung folgt einer Choreografie von Bewegung und Objekten. Die Exponate werden von einem eingezogenen Schnürboden herabhängen und können, wo immer möglich, von den Besucherinnen und Besuchern berührt, sinnlich erfahren und auch bewegt werden.
Die Objektträger sind höhenverstellbar und drehbar, zu jeder Objektseite wird ein anderer Kontext hergestellt. Jedes Objekt steht dabei in räumlicher und inhaltlicher Korrespondenz mit Fragestellungen und Themen der aktuellen Forschung. Deren Inhalte werden auf den kinetischen Projektionsflächen einer 35 Meter langen Wand abgebildet. Die kinetischen Elemente sollen nicht nur auf die beweglichen Objekte reagieren können, sondern auch auf vorbeigehende Besucherinnen und Besucher. Ihre Körperhaltung und ihr Tempo werden dabei zum Bestandteil der Szenografie.
Wen möchten Sie mit der Ausstellung erreichen?
Wir möchten alle erreichen, die sich interessieren lassen für aktuelle Forschungsprojekte verschiedener Disziplinen und die Bedeutung universitärer Sammlungen. Unsere Erzählung soll anspruchsvoll, aber auch kurzweilig und unterhaltsam sein. Es soll dem Publikum nicht so ergehen wie Hermann Helmholtz bei dem Besuch eines Museums im September 1873: „Aber mittags war ich fast ohnmächtig vor Müdigkeit; es ist anstrengender, als einen Alpenpaß in freier Luft zu überschreiten.”
Wie wird das Publikum in die Ausstellungsgestaltung eingebunden?
Zum einen, indem sie ihren eigenen Ausstellungsweg und damit auch immer neue Kontexte kreieren können. Zum anderen folgt die Auftaktausstellung dem Grundsatz, dass Wissen nicht nur präsentiert wird, sondern dass im Austausch mit dem Publikum neues Wissen entstehen kann, das wiederum produktiv in die Universität zurückzuwirken vermag. In diesem Sinne wird die Ausstellung zu einem Hub, einem Knotenpunkt.
Auch das Lautarchiv soll Teil der Ausstellung werden.
In der Auftaktausstellung werden wir das Lautarchiv in einem Raum im Raum gemeinsam mit dem Hahne-Niehoff-Archiv des Instituts für Europäische Ethnologie und dem Janheinz Jahn-Archiv des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften thematisieren und präsentieren. Durch die komplementäre und vergleichende Betrachtung der drei Archive werden historische und politische Bezüge und Inhalte sicht- und hörbar, die sonst nur anhand langer Abhandlungen erläutert werden könnten.
Wo liegt der thematische Schwerpunkt bei der Präsentation des Lautarchivs?
Mit zwei Sammlungen befassen wir uns intensiver: zum einen mit den Sprachaufnahmen in den deutschen Kriegsgefangenenlagern des Ersten und Zweiten Weltkriegs und damit mit den Forschungsansätzen und -praktiken der damaligen Wissenschaftler, die das Lautarchiv auch zu einem kolonialen Archiv machten. Dieser Teil der Archivgeschichte ist vor allem durch Britta Lange kritisch aufgearbeitet worden, genauso wie die Rolle Wilhelm Doegens, des einstigen Archivleiters. Ein jüngerer Zeitgenosse von Doegen war Janheinz Jahn, der als Übersetzer und Literaturwissenschaftler jedoch eine diametral andere Position zur Sprache „der Anderen“ einnahm und damit einen Beitrag zur „geistigen Dekolonialisierung“ leisten wollte. Jahn prägte den Begriff der „neoafrikanischen Literatur“ und übertrug Werke von rund 600 afrikanischen und afroamerikanischen Autoren (und nur wenigen Autorinnen) ins Deutsche. Dabei war ihm und ist uns bewusst, dass die Dekolonialisierung kein herrschaftsfreier Prozess ist.
Zum anderen befassen wir uns mit einem Sammlungsbestand des Lautarchivs, der mehrere Jahrzehnte lang wenig Aufmerksamkeit auf sich zog: den mehr als 700 Dialektaufnahmen deutscher Sprache.
Inwiefern ist dieses Archiv heute wichtig?
Im Oktober 1923 wurde die erste Radiosendung Deutschlands ausgestrahlt. Mit der Erfindung und Verbreitung der elektronischen Massenmedien verbreitete sich zunehmend auch das Hochdeutsche. Insofern ist dieses Archiv ein bedeutender Bezugspunkt der Dialektologie, denn ein Großteil der dort aufbewahrten Sprachaufnahmen ist älter.
Das Hahne-Niehoff-Archiv ist ein Fotoarchiv. Wurden mit ihm auch politische Ziele verfolgt?
Ja, 1928 zog das Zentralbüro des Atlas der Deutschen Volkskunde in das Berliner Stadtschloss. Der Prähistoriker Hans Hahne, Direktor der „Landesanstalt für Vorgeschichte“ in Halle, war im Nebenamt auch Mitarbeiter am Atlas-Projekt. Als Anfang der 1920er-Jahre in Berlin die ersten Dialekte für das Lautarchiv aufgenommen wurden, baute Hahne ein Fotoarchiv auf, das die „Sitten und Bräuche“ der Deutschen unter volkskundlichen Aspekten dokumentieren sollte. Im weiten Forschungsfeld der Volkskunde vertrat Hahne schon sehr früh völkische Positionen. Für ihn war die dörfliche Lebensgemeinschaft Modell und Urform der „germanischen Rasse“ schlechthin. Insbesondere nach 1933 ist der politische Kontext der Zeit in den Fotografien beispielsweise von Schützenfesten, Erntedank- oder Hochzeitsfeiern deutlich erkennbar.
Wie spielen Sprach- und Fotoaufnahmen zusammen?
In vielen Dialektaufnahmen der 1930er-Jahre finden sich dieselben politischen Bezüge, obwohl sie nicht so offenkundig sind. Zum tieferen Verständnis der Dialekte im historischen Kontext der Volkskunde ist das Hahne-Niehoff-Archiv daher eine ergänzende Quelle, die den politischen und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang deutlich macht.
Das Humboldt Forum war wiederholt wegen ungeklärter Provenienzen von Exponaten in der Kritik, Sie sprachen vom Lautarchiv als einem kolonialen Archiv. Wie gehen Sie damit um?
Am Umgang mit den Themen Provenienzforschung und (Post-)Kolonialismus wird sich das Humboldt Forum insgesamt messen lassen müssen. Auch die HU besitzt „sensible“ Objekte. Das Team der Kuratorinnen und Kuratoren strebt eine offen(siv)e Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragstellungen an, die Ausstellung möchte auch in dieser Hinsicht ein Diskussionsforum sein: Wie kann ein ethisch vertretbarer Umgang mit Sammlungen aussehen, die zumindest partiell einen von Gewalt geprägten Entstehungskontext haben, aber teilweise heute für die Auseinandersetzung mit eben dieser Wissenschaftsgeschichte einen großen Wert besitzen und an denen – wie sich immer wieder durch Anfragen insbesondere an das Lautarchiv zeigt – auch Angehörige der Nachfolgegenerationen der seinerzeit unfreiwillig zu Forschungsobjekten degradierten Menschen ein großes (Forschungs-) Interesse haben?
Wie nähern Sie sich den Antworten?
Es ist das Anliegen der Ausstellung, den Begriff „Aneignung“ in seinen zahlreichen Bedeutungsebenen auszuloten. So soll auch der Umgang mit Meeresökosystemen, mit Pflanzen- und Tiergemeinschaften unter dem Aspekt der Provenienzfrage behandelt werden: Wem gehört die Natur, wem der Zugang zu sauberer Luft, Wasser und nicht kontaminiertem Boden, die durch Müllexporte aus der sogenannten Ersten in die sogenannte Dritte Welt belastet werden? Wie können wir die Geschichte des Vermessens, Kartierens und Einteilens in „Eigenes“ und „Fremdes“ kritisch thematisieren, ohne diese Blickverhältnisse in der Ausstellung ungewollt zu reaffirmieren? Die Arbeitsweise des Projektteams hat diesbezüglich einen suchenden, selbstreflexiven Charakter. Diese Haltung sowie das Wissen um „Nicht-Vollendung“ werden sich in der Gestaltung widerspiegeln.
Das Interview führten Ljiljana Nikolic und Jens Wagner