Wer sind wir – und warum sind wir so, wie wir sind?
Foto: Jens Gyarmaty
Ist die Persönlichkeit wandelbar?
Jule Specht: Ja, das ist sie! Wir haben uns jahrelang mit der Frage beschäftigt, was eine stabile Persönlichkeit ausmacht und welche Eigenschaften eine Person aufweist, die über viele Situationen hinweg stabil bleiben. In den letzten Jahren ist der Fokus der Forschung immer mehr auf die Tatsache gerückt, dass sich die Persönlichkeit im Laufe des Lebens verändert. Die Offenheit für neue Erfahrungen etwa ist in jungem Alter oftmals besonders stark ausgeprägt, im höheren Alter nimmt sie deutlich ab.
In letzter Zeit war viel vom Selbstoptimierungswahn in unserer Gesellschaft die Rede. Übersteigerte Versuche, das Innenleben zu managen oder die eigene Persönlichkeit zu ändern, führten aber oft nur zur Erfahrung des Scheiterns, sagen Kritiker. Selbstakzeptanz verhelfe eher zu Glück und Erfolg im Leben als Selbstvervollkommnung. Kann man seine Persönlichkeit überhaupt manipulieren?
J.S.: Ich finde es sehr wichtig, dass wir wertschätzen, dass Menschen unterschiedlich sind. Einerseits ist es spannender und inspirierender mit Menschen zu tun zu haben, die nicht alle gleich sind. Andererseits ist es etwas, das uns als Gesellschaft gut vorbereitet für die verschiedensten Herausforderungen, die an uns gestellt werden. Von daher finde ich die Würdigung der Diversität sehr wichtig. Außerdem können Persönlichkeitsmerkmale in bestimmten Kontexten suboptimal sein, sich in anderen aber wiederum auszahlen. Es geht daher eher darum, die Vorteile der eigenen Persönlichkeit zu sehen, als sie verändern zu wollen. Denn das würde bedeuten, dass man etwas sehr Substantielles, Tiefgehendes und Identitätsstiftendes verändert, das die eigene Person ausmacht. Man sollte sich sehr gut überlegen, ob man das wirklich verändern möchte.
Was interessiert Sie besonders an der Erforschung der Persönlichkeit?
J.S.: Wenn man sich in der Familie, im Freundeskreis oder einfach in der Straßenbahn umschaut: Überall hat man mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun, die einen immer wieder begeistern und inspirieren, verwundern oder überraschen. Das fasziniert mich. Diese Unterschiedlichkeit genauer zu verstehen, was sie verursacht, wie das in Zusammenhang steht mit dem, was im Leben eines Menschen passiert, ist einfach eine Frage, die ich extrem spannend finde.
Gewissenhaftigkeit steht im Verdacht, sich besonders positiv auf die Karriere auszuwirken. In einer amerikanischen Studie wurden Studenten befragt und 97 Prozent gaben an, ihre Gewissenhaftigkeit erhöhen zu wollen – also praktisch alle. Was raten Sie ihnen?
J.S.: Zunächst einmal: Das ist ganz normal, denn wir wissen, dass bis zum Alter von 40 Jahren die Gewissenhaftigkeit geringer ausgeprägt ist als danach. Sie steigt mit dem Beginn der Berufstätigkeit und den damit zusammenhängenden Anforderungen und nimmt erst mit dem Austritt aus dem Berufsleben wieder ab. Das heißt aber nicht, dass sich alle Menschen mit einem Anstieg ihrer Gewissenhaftigkeit an den Beruf anpassen müssten, um beruflichen Erfolg zu haben. Man kann sich auch einen passenden Beruf suchen, der einem eher entspricht.
Warum ist es Ihnen wichtig, auch populärwissenschaftliche Bücher zu veröffentlichen?
Vor allem, weil es mir Spaß macht. Als Wissenschaftlerinnen sehen wir uns aber auch der Verantwortung gegenüber, nicht nur für fünf bis zehn Menschen auf dieser Welt zu schreiben, die sich mit der gleichen Liebe fürs kleinste Detail derselben Fragestellung widmen. Deswegen sollten wir Aspekte unserer Forschung, die eine Relevanz für das Leben außerhalb des Labors haben, so aufbereiten, dass auch interessierte Laien einen Zugang dazu finden können.
Das Interview führte Vera Görgen.
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Prof. Dr. Jule Specht
Institut für Psychologie
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