„Die Ehemalige wirkt weiter“
Herr Professor Dietrich, was die DDR war und wie im Nachhinein damit umgegangen werden soll, wird seit der deutschen Vereinigung diskutiert, in den vergangenen Jahren wieder verstärkt. Was verleiht dem Thema solch eine anhaltende Aktualität?
Prof. Dietrich: Beim Blick auf die DDR blieb das staatlich approbierte Gedächtnis auf den Täter-Opfer-Gegensatz fixiert, als negatives Kontrastbild von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Das zeigt sich etwa in dem Paradox, wenn von der ehemaligen DDR geredet wird, bis in die Namensgebung der Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes hinein. Als wollte man die Ex schnell ablegen und vergessen, ganz im Gegenteil zur Aufgabenstellung jener Behörde. Doch die Ehemalige wirkt weiter. Der Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe hat die Metapher von der ostdeutschen „Erinnerung als Eisberg“ beschrieben: Gut sichtbar, über der Wasseroberfläche, sehen wir demzufolge die Narrative des staatlich privilegierten Diktaturgedächtnisses. Der größte Teil der ostdeutschen Erinnerung aber befindet sich im Dunkeln, unter der Wasseroberfläche. Er wird nicht wahrgenommen, weil seine Narrative ambivalent sind und weil sie die Narrative des Diktaturgedächtnisses nicht nur ergänzen und differenzieren, sondern auch dementieren.
Und eine umfassende Kulturgeschichte der DDR hilft da weiter?
Die Befindlichkeiten der Menschen in der DDR sind inzwischen in unzähligen Einzeldarstellungen beschrieben worden: Erinnerungen und Erzählungen über das Leben, die Arbeit und den Alltag, über Populärkultur und Volkskunst, über Literatur und Kunst, Musik etc. Eine zusammenfassende Kulturgeschichte der DDR aber gibt es nicht, nicht einmal eine Gesamtgeschichte ihrer Kulturpolitik. Historisierung und Objektivierung sind auch deshalb notwendig, weil die DDR-Geschichte noch qualmt und stark in politische Auseinandersetzungen verstrickt ist. Sie ist zugleich, wie auch die Geschichte der alten Bundesrepublik, im Kontext des Umgangs mit der deutschen Schuld zu sehen. Denn der Blick auf die DDR-Diktatur ist auch stark geprägt vom Umgang mit der NS-Diktatur.
Zeigt sich beim Blick auf 40 Jahre Kulturgeschichte der DDR eine Grundkonstante?
Zunächst lassen sich drei Phasen unterscheiden. In der Übergangsgesellschaft von etwa 1945 bis 1957 geht die Entwicklung von Offenheit und Pluralität hin zu Tradition und Revisionismus. In der Bildungsgesellschaft, zwischen 1958 und 1976, lassen sich jugendliche und intellektuelle Selbstbehauptung sowie die Erfindung der sozialistischen Nation beobachten. Die Konsumgesellschaft der Jahre 1977 bis 1990 ist geprägt von Folklorismus und Exodus, kulturellen Öffnungen und alternativen Praktiken. Das führt schließlich zu demokratischer Kultur und nationaler Wende. Über die 40 Jahre insgesamt lässt sich sagen: Der Grundwiderspruch in der Kultur der DDR, wie auch in der Kultur- und Intelligenzpolitik, bestand zwischen der hohen Anerkennung und Förderung von Kultur und der ständigen Furcht vor einer Destabilisierung durch Kultur. Mit diesem kulturgeschichtlichen Ansatz sollen die kulturelle Substanz der ostdeutschen Gesellschaft und das widerständige Potential ihrer Kultur herausgearbeitet werden. Ich hoffe, damit eine neue Seite in der Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit aufgeschlagen zu haben.
Die Fragen stellte Lars Klaaßen.
Buch und Autor
Die „Kulturgeschichte der DDR“ des Historikers Gerd Dietrich umfasst drei Bände mit über 2.400 Seiten.