HU200: Georg von der Gabelentz - Erforscher einer „Sprache ohne Grammatik“
Die Humboldt-Universität, die dieses Jahr ihr 200-jähriges Bestehen
feiert, hatte 1889 mit Georg von der Gabelentz (1840-1893) einen
Sprachforscher berufen, der hier als ordentlicher Professor eine Sprache
lehren sollte, die damals bei den Sprachwissenschaftlern als Sprache
ohne Grammatik galt: Chinesisch.
Eine Sprache ohne Grammatik, das heißt im fachlichen Verständnis von
damals eine Sprache ohne Morphologie (Formenlehre), konnte nur
angemessen beschrieben werden, wenn man eine radikale Umstellung des
grammatischen Gesichtspunkts vornahm: Gabelentz betrachtete die Sprache
nicht nur vom Standpunkt des Hörenden und Verstehenden aus, sondern nahm
den Standpunkt des Sprechers ein, der Wörter zu Sätzen verbindet, um
seine Gedanken auszudrücken. Er bereitete damit einen Ansatz vor, dem 75
Jahre später der amerikanischen Linguist Noam Chomsky mit seiner am
Englischen entwickelten generativen (erzeugenden) Grammatik zum
Durchbruch verhalf. Dass die Syntax (Satzlehre) nun die Morphologie als
zentrale Disziplin ablöste, ist kein Zufall: Das Chinesische und das
Englische sind Syntax-Sprachen ohne oder fast ohne Deklination und
Konjugation.
Hans Conon und Georg von der Gabelentz waren dem Universitätsgründer und
Sprachforscher Wilhelm von Humboldt (1767-1835) stofflich und methodisch
verpflichtet. Auch er nahm den Gesichtspunkt des Sprechers ein, wenn er
die Sprache als Tätigkeit (energeia) und nicht bloß als Werk (ergon),
das heißt als Sammlung von Formen und Regeln, interpretierte. Allerdings
galt Humboldt weithin als tief, aber dunkel und blieb ohne breite
akademische Nachwirkung, während seine positivistischen Gegenspieler in
Leipzig, die „Junggrammatiker“, ein dreiviertel Jahrhundert lang in
aller Welt akademisch dominieren konnten.
Georg von der Gabelentz’ „Chinesische Grammatik“ (1881) in ihrer denkbar
klaren systematischen Darstellung ist dagegen bis heute ein
unübertroffenes Meisterwerk des Faches geblieben.
Auch seine allgemein-sprachwissenschaftlichen Begriffe, die sich im
Hauptwerk „Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und
bisherigen Ergebnisse“ (1891) finden, sind gerade heute außerordentlich
aktuell. Gabelentz war damit seiner Zeit sehr weit voraus und geradezu
zukunftsweisend. Jüngst wurde ein Georg von der Gabelentz Award an eine
amerikanische Forscherin in der Fachrichtung Sprachtypologie verliehen -
einer Disziplin, die er in seinem letzten, posthum veröffentlichten
Aufsatz als „neue Aufgabe der Linguistik“ bezeichnet hatte.
Die Gabelentz-Ausstellung zeigt den persönlichen Umkreis des
adeligen Gelehrten aus Altenburg (Thüringen) in Gemälden, Fotos und
Schriften, die trotz der Enteignung und Auflösung der Familiengüter nach
dem Zweiten Weltkrieg erhalten geblieben sind. Das bekannte
Sprachenverzeichnis (208 Sprachen!) seines Vaters, persönliche und
zeitgenössische Zeugnisse über ihn, originelle „Sentenzen“ von ihm,
individuelle Chronologie und Passagen aus seinen wissenschaftlichen
Werken sind an den Wänden zu sehen. Zu sehen ist auch eine Zimmertür aus
dem Sommerhaus bei Triptis (Thüringen), das Gabelentz sich ganz nach
eigenen Plänen hatte bauen lassen. Alle Türrahmen hatten eine
Giebelform, damit sich der Bauherr, von Statur ein Riese von 209 cm,
beim Durchgehen nicht bücken musste.
Mit Georg von der Gabelentz hatte die Humboldt-Universität einen
Wissenschaftler gewonnen, der im Geiste ihres Begründers Wilhelm von
Humboldt wirkte und bedeutende Beiträge zum Verständnis der Sprachen im
Allgemeinen und des Chinesischen im Besonderen geleistet hat.
Ausstellung über Georg von der Gabelentz vom 15. Juli bis 14. August
2010 im Lichthof der Humboldt-Universität zu Berlin, Hauptgebäude, Unter den Linden 6
Öffnungszeiten:
Mo–Fr: 9 – 20 Uhr, Sa: 9 – 18 Uhr
Veranstalter:
Institut für deutsche Sprache und Linguistik der Humboldt-Universität zu
Berlin
Ost-West-Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung e. V., Berlin
Thüringisches Staatsarchiv Altenburg
in Zusammenarbeit mit der Abteilung Internationales der
Humboldt-Universität zu Berlin
WEITERE INFORMATIONEN
Dr. Kennosuke Ezawa
Ost-West-Gesellschaft für Sprach- und Kulturforschung e. V.
Tel. 030-3924576
E-Mail: OWGBln@googlemail.com