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„In der Renaissance wird die Nacktheit zelebriert“

Die internationale Tagung „Nackte Gestalten“ hat die Transformation antiker Aktfiguren zum Thema. Ein Interview mit der Kunsthistorikerin Dr. Nicole Hegener

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Andrea del Verrocchio: Schlafender Jüngling, Berlin, Skulpturensammlung, Bode-Museum SMB SPK
Abbildung: Matthias Heyde

Vom 7. bis 9. April findet die internationale Tagung „Nackte Gestalten: Die Wiederkehr des antiken Akts in der Renaissanceplastik“ statt, die von dem Archäologen Prof. Dr. Luca Giuliani und der Kunsthistorikerin Dr. Nicole Hegener, beide Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“, organisiert wird. Eingeladen sind Archäologen und Kunsthistoriker, Kultur- und Literaturwissenschaftler, Theologen sowie interessierte Laien.

Frau Dr. Hegener, was hat Sie an dem Thema gereizt?

Das Thema der Aktfigur beschäftigt mich seit meinem ersten Semester: 1986 gab es in Florenz eine große Donatello-Ausstellung, seither befasse ich mich nicht nur mit Skulptur, sondern auch mit dem Plastischen in der Malerei. Die Idee zur Tagung kam mir 2014 in Florenz: In den Gewänden der Porta della Mandorla des Florentiner Doms tummeln sich nackte Figuren zahlreich und ohne Scham: Putten, Hercules-Figuren, aber keine Heiligen. Hier scheint der Beginn einer Entwicklung, die in den nackten Riesen auf der Piazza della Signoria gipfelt. Diese eineinhalb Jahrhunderte wollen wir an Werken in Florenz und im übrigen Europa untersuchen.

Nackte Skulpturen aus der Antike kennen die meisten, wie sah es im Mittelalter aus?

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Dr. Nicole Hegener
Abbildung: Matthias Heyde

Auch die mittelalterlichen Bildhauer schufen unverhüllte Plastiken, meist christlicher Thematik: Adam und Eva, Verdammte in der Hölle, Märtyrer, die gegeißelt werden und Christus selbst, der vor der Renaissance nie ganz nackt gezeigt wird. Während diese leiden oder sich genieren wird die Nacktheit in der Renaissance zelebriert: In keiner anderen Epoche seit der Antike finden sich so zahlreich und vielfältig Aktdarstellungen antiker Götter, Helden und Fabelwesen: Apoll und David, Herkules und Merkur, Faune und Wettkämpfer.

Auf der Piazza della Signoria in Florenz ragen viele nackte Riesenstatuen empor, wie kam es dazu?

Agostino di Duccio hatte 1464-1467 für die Figur eines bekleideten David, der auf einem Strebepfeiler vor der Domkuppel aufgestellt werden sollte, einen Marmorblock verschlagen. Dieser ruhte bis 1501 Michelangelo beauftragt wurde, das Werk zu vollenden. Eine Kommission beschloss, diesen monumentalen David – über fünf Meter groß und fast sechs Tonnen schwer – vor dem Signorienpalast zu errichten. Ihre Entscheidung bewirkte eine radikale Wende: Fortan durften Künstler Aktfiguren großen Formats gestalten. Das geschah zunächst vor allem in Florenz, Rom und Venedig und dann nördlich der Alpen.

Wie hat die Gesellschaft darauf reagiert?

Leider haben wir nur wenige zeitgenössische Quellen. Der Transport von Michelangelos David – nur wenige hundert Meter von der Werkstatt bis zur Piazza – dauerte 24 Tage. In der ersten Nacht wurde die Statue mit Steinen beworfen, so dass ein Wachschutz organisiert werden musste. Nach seiner Aufstellung wurde der David aber in Ruhe gelassen. Ob die Aggression der Nacktheit des David galt oder den Republikanern, deren Partei er repräsentierte, ist ungewiss. Als sein Pendant ließen die Medici 1534 die Figurengruppe von Hercules und Cacus – ebenfalls riesig und nackt – von Bandinelli errichten, bei seiner Aufstellung hagelte es Schmähgedichte.

Hat sich die Kirche über die „neuen Nackten“ erregt?

Der Papst residiert in der Ewigen Stadt, umgeben von antiken Monumenten und
nackten Statuen, die über Jahrhunderte niemanden störten. Die neuen antikisierenden Aktfiguren standen keineswegs sofort und in großem Format auf öffentlichen Plätzen, sondern zierten vielmehr die Privathäuser und Gärten kunstliebender Auftraggeber, darunter auch geistliche Mäzene.

Wie unterscheiden sich antike Akte und antikisierende Renaissanceakte voneinander?

Das ist die große Frage. Alle Renaissancekünstler strebten danach, die verlorene Größe der antiken Kunst wiederzuerlangen. Sie studierten die antiken Objekte, zeichneten und formten sie nach. Die antiken Bildwerke zeigen die voyeuristischen und tierhaften Triebe des Menschen auf spielerische Weise durch mythologische Figuren und Mischwesen. Unter den Renaissanceakten gibt es solche, die jenen der Antike sklavisch genau nachgebildet sind, andere variieren die antiken Vorbilder ganz bewusst phantasievoll. Die Renaissancekünstler liebten es, durch Anspielungen zu verwirren. Michelangelos David ist ein junger Athlet mit Schultergurt, von einem bevorstehenden oder erfolgten Schleuderkampf mit dem Riesen Goliath ahnt man nichts. Bewusst verzichtet Michelangelo auf Attribute, schon die Zeitgenossen hatten Schwierigkeiten, die Figur zu identifizieren.

Wann kommt es zur Zäsur?

Mit dem Trienter Konzil (1545–1563). Mit einem Mal schämte man sich vehement
der vielen Nackten in Malerei und Plastik und begann das antike Konzept „sakraler
Nacktheit“ zu verachten: Papst Pius IV. ließ durch Daniele da Volterra den Nackten von Michelangelos Jüngstem Gericht 1565 Höschen aufsetzen und nicht nur Bandinellis Figurenpaar Adam und Eva im Chor im Florentiner Dom verhüllte man über der Scham.

Müssen es in der Renaissance eigentlich immer „Nackte“ sein?

Sicher gibt es mehr Gewand- als Aktdarstellungen, aber in der Renaissance hat die
Aktfigur zweifellos ihre Hochblüte. Der menschliche Akt faszinierte die Künstler.
Michelangelo war davon so besessen, dass er verbotenerweise Leichen sezierte, um Knochen und Muskeln zu studieren. Anatomische Studien beflügelten die Künstler, auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass derselbe Michelangelo von einem tiefen Glauben an Gott und dessen kreatürliche Schöpfungen, insbesondere des Menschen erfüllt war. Michelangelo, der einen Kosmos nackter Gestalten schuf, war ein frommer Mensch, der sein Schaffen ganz im Dienste Gottes sah.

Sie werden auf der Tagung ausgewiesene Experten dabei haben.

Ja, wir freuen uns beispielsweise auf Cristina Acidini aus Florenz, eine der besten
Expertinnen der Florentiner Plastik des 15. und 16. Jahrhunderts. Sie spricht über
den männlichen Akt in der Renaissance und Claudia Kryza-Gersch aus Wien, eine
renommierte Bronzen-Forscherin, widmet sich dem weiblichen Akt. Alexander Perrig, einer der ausgewiesensten Kenner italienischer Handzeichnungen der Michelangelozeit spricht über die vielen Miniaturakte von Don Giulio Clovio, den Vasari den „kleinen Michelangelo“ nannte.

Die Fragen stellte Ljiljana Nikolic.

Weitere Informationen

Internationale Tagung "Nackte Gestalten / Naked Revival"
Programm der Tagung als PDF

Kontakt

Dr. Nicole Hegener

Humboldt-Universität zu Berlin
SFB 644, Teilprojekt B 10
nicole.hegener@culture.hu-berlin.de