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Migration als Chance für Deutschlands Metropolen

In unserer Serie „Stadt im Wandel“ widmen wir uns Visionen und Herausforderungen der Metropolen der Zukunft. In Teil drei spricht BIM-Direktor Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba über Herausforderungen und Chancen für Berlin durch Migration

Ein Blick über Berlin

Berlin wird in Zukunft weiter wachsen - auch wegen der Migration. Abb. Colourbox.de

Deutschlands Großstädte wachsen, immer mehr Menschen ziehen vom Land in die City. Ein Trend, der sich durch die Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten noch verstärkt. Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba, Direktor des Berliner Institut für empirische Integration- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin (HU), spricht über Migration und die Zukunft von Metropolen wie Berlin.

Bis zum Jahr 2030, so weist es die neue Bevölkerungsprognose aus, wird Berlins Bevölkerung - auch migrationsbedingt - um 7,5 Prozent auf dann 3,828 Millionen Menschen wachsen. Wie ist die aktuelle Debatte über Einwanderung in Berlin?

Wolfgang Kaschuba: Da hat Deutschland insgesamt noch keine klare Perspektive. Denn bislang sind wir ein Einwanderungsland, das sich erst allmählich der Realität wachsender Mobilität und damit auch wachsender Einwanderung wie Auswanderung stellt. Noch sind wir nicht in der Situation einer Einwanderungsgesellschaft, die sich über klare Konzepte von Asyl und Zuwanderung den Herausforderungen der Globalisierung aktiv stellt. Berlin ist in dieser Hinsicht ein wenig weiter, weil sich die Stadt – wie alle europäischen Metropolen – historisch aus massenhafter Zuwanderung entwickelt hat. An der Verarbeitung der vorhandenen Erfahrung mit den so genannten Gastarbeitern der letzten 50 Jahre mangelt es aber in der aktuellen Migrationsdebatte. Wir tun oft so, als sei diese eine völlig neue Entwicklung, als würde sie uns ökonomisch, sozial und kulturell überfordern. Und als sei sie direkt zu verbinden mit Fragen von Sicherheit und Terror. Da dominieren stereotype Bilder und Gefühle anstatt Fakten und Erfahrungen.

Dabei verfügt gerade Berlin in den letzten Jahrzehnten über reichlich Erfahrung gelingender Integration. Es profitiert von seiner sozialen und kulturellen Vielfalt, gerade auch in wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht. Was den Terror angeht, geht es um klare Haltungen, polizeiliche Maßnahmen und harte Strafen gegen Gefährder und Täter. Die Herkunft ist da völlig gleichgültig. Es geht um klare Positionen gegen salafistische Agitation in Moscheevereinen ebenso wie gegen rechtspopulistische Hetze à la AfD und Pegida.

Wie sieht Ihre Vision von Berlin in 25 Jahren aus?

Das ist die lange Spanne einer Generation, da kann sehr viel passieren. Ich denke aber, dass der Slogan „arm aber sexy“ dann kaum mehr gelten wird, weil die Stadt von der Zuwanderung von neuen Menschen, Ideen und Lebensstilen profitiert hat: demographisch, wirtschaftlich und kulturell. Wie sehr im Einzelnen, das wird vor allem davon abhängen, ob die Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, bei Bildung und Teilhabe am öffentlichen Leben gerechter verteilt sein werden als heute. Das erfordert deutlich höhere Investitionen in den Wohnungsbau, eine sozial verträgliche Eigentums- und Mietpolitik und ein kluges Bildungs- und Ausbildungswesen.

Wenn diese Maßnahmen auf den Weg gebracht werden, kann Berlin zu einem Labor gelingender Integration werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich Integration nicht nur auf Migranten und Flüchtlinge, sondern auf die Stadtgesellschaft insgesamt bezieht. Also auf eine Gesellschaft, die in den nächsten Jahren sowohl enger zusammenrücken, als auch weiter auseinanderdriften wird. Berlin ist eine „Gesellschaft der Lebensstile“. Jeder verfolgt seine persönlichen Vorlieben und macht sie zu seiner Identität: Kiezzugehörigkeit, Weltanschauung, Ernährungsweise, Mode. Dennoch muss diese zentrifugale Dynamik immer wieder in gemeinsamen Vorstellungen von Stadtleben und Stadtpolitik eingefangen werden. Denn wir brauchen gemeinsame Ideen vom Zusammenleben. Deshalb wäre meine Vision: Berlin als eine große und vielfältige Stadtgesellschaft, die sich in souveräner Art ihrer Unterschiede wie ihrer Gemeinsamkeiten bewusst ist und die daraus neue Formen und Konzepte der sozialen Solidarität, der ökologischen Verantwortung, der persönlichen Freiheit und der kulturellen Vielfalt entwickelt.

Was muss getan werden, um diese Vision zu verwirklichen und um mehr gesellschaftliche Teilhabe für alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen? Welche Rolle können dabei zivilgesellschaftliche Initiativen und Politik spielen?

Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba

Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba. Abb.: Dirk Enters

Gerade in Berlin entwickeln sich gegenwärtig neue Formen der Teilnahme und Teilhabe am städtischen Leben. Das gilt für den Bereich von Bürgerinitiativen, Vereinen und Organisationen sowie für soziale Dienste und kulturelle Programme. Das gilt aber vor allem auch für die zahllosen neuen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich in vielen neuen Feldern engagieren und in neuen Formaten organisieren: vom Stadtgrün bis zu den Radwegen, von Privatschulen bis zu Kitas, von Quartiers- und Nachbarschaftspolitik bis zur Kinder- und Flüchtlingshilfe.

Damit erklären sich sehr viel mehr Einzelpersonen und Gruppen „zuständig“ für die Entwicklung der Stadt - und damit auch der Gesellschaft. Diese neue Identifikation mit der Geschichte wie der Zukunft Berlins wird kein kurzlebiges Strohfeuer sein, sondern nachhaltig wirksam bleiben. Und sie wird mittel- und langfristig die wichtigste soziale und kulturelle Ressource der Stadt bilden.

Die Politik ist daher gut beraten, wenn sie diese stadtgesellschaftlichen Ressourcen künftig noch mehr wertschätzt und pflegt. Das bedeutet nicht, sich selbst aus der Verantwortung für die Weichenstellungen Berlins zu entlassen. Die Verwaltung muss aber lernen, wie sie mit der Zivilgesellschaft künftig auf Augenhöhe zusammenarbeitet, also gemeinsame Verhandlung und Verantwortung organisiert. Denn Integration und Entwicklung kommen gerade in den großen Städten wesentlich „von unten“ her zustande - oder eben gar nicht. Da hat Politik noch gewaltige Lern- und Moderationsaufgaben vor sich, aber eben auch gewaltige Chancen.

Islamismus und Radikalismus sind in aller Munde. Wie sieht die Debatte um den Islam in 25 Jahren aus? Wird es immer noch heißen: der Islam gehört zu Deutschland?

Vermutlich sieht es deutlich anders als heute. Zum einen wird sich die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass die meisten Muslime in Deutschland  nicht primär „Religion“, sondern vor allem „Arbeit“ und „Freizeit“, also ganz normalen Berliner Alltag, leben. So wie das Christen, Juden, Hindus und die große Berliner Mehrheit der Religionslosen eben auch tun. Zum andern hoffe ich sehr, dass der „Islamische Staat“ mit seinen mörderischen Ideologien dann eine Horrorgeschichte von gestern sein wird. Denn die vergangenen Jahre des Terrors haben klargemacht, dass sich der Wunsch nach Freiheit und Sicherheit für alle nur erfüllt, wenn Ideologien und Religionen nicht Differenz- und Hassbilder predigen, sondern fähig sind zur Koexistenz und zur Solidarität jenseits von ethnischer Herkunft und Religionszugehörigkeit.

Dann wird es auch keine Grundsatzfrage mehr sein, ob der Islam zu Deutschland gehört, weil wir über Religionen und Glaubensformen nicht abstimmen wollen und können. Das macht keinen Sinn in einer säkularen und postmigrantischen Gesellschaft. Und das verbieten uns auch in 25 Jahren immer noch Anstand und Vernunft sowie Rechtspraxis und Grundgesetz.

Wie kann die soziale und kulturelle Vielfalt als Antriebskraft des sozialen und wirtschaftlichen Lebens genutzt werden und welche Chancen bietet die Einwanderung für eine Stadt wie Berlin?

Eine große Chance haben wir in Deutschland bereits genutzt: Die Gegenwart ist stark von den Wirkungen der Zuwanderung mitgestaltet. Also von gelingender Migration und Integration, wie sie sich seit Jahrzehnten regional, kontinental und global vollzogen hat.

Gelernt wurde auch, dass wachsende Zuwanderung und Vielfalt zwar auch soziale Probleme schaffen, dass also Arbeits- und Wohnmöglichkeiten gerecht verteilt werden müssen, dass Bildung und Ausbildung hohe Investitionen erfordern - dass die Bilanz dieser Integrationsleistung der letzten Jahrzehnte jedoch unterm Strich ausgesprochen positiv ausfällt. Diese Prognose kann auch für die Zukunft gelten. Gerade in Berlin wird deutlich, wie sehr soziale und kulturelle Vielfalt auch zur unmittelbaren Antriebskraft des sozialen und wirtschaftlichen Lebens werden. Das zeigt sich vom Dienstleistungssektor bis zu den Startups, von der Esskultur bis zur Musik, von den urbanen Räumen bis zu den Lebensstilen. Mehr Investitionen in Schulgebäude und Schulunterricht, in soziale Betreuung und kulturelle Einrichtungen brauchen wir ohnehin. Da bringt der zusätzliche Bedarf der Flüchtlinge und Zuwanderer die Defizite ohnehin nur auf den Tisch und spitzt sie noch weiter zu. Das sind Investitionen in eine Zukunft, in der nicht das Woher entscheidend sein wird, sondern das Wohin.

Welchen Beitrag kann Forschung bei der Implementierung von Integrationsprozessen leisten? Wie kann Wissenschaft solche Prozesse der gesellschaftlichen Veränderungen begleiten?  

Wissenschaft und Forschung müssen gerade im Bereich der Integrationspolitik noch wesentlich näher an die Gesellschaft heranrücken, um besser zu verstehen, wie Bilder und Erfahrungen tatsächlich zusammenhängen und welche Rolle Medien und Politik dabei kognitiv spielen. Denn es ist augenfällig, dass in bestimmten Generationen, Gruppen und Regionen der Anteil derer wächst, die glauben, mit den neuen sozialen Mischungen und den neuen persönlichen Freiheiten der spätmodernen Gesellschaft nicht umgehen zu wollen oder zu können. Das zeigt der Aufstieg der AfD in Deutschland ebenso deutlich wie der Ausgang des Brexit-Votums in England oder die vorläufige Nominierung von Donald Trump in den USA. Da helfen Einstellungsbefragungen relativ wenig, weil sie oft nur das Echo dessen abbilden, was Medien und Politik zuvor in den Wald hineingerufen haben. Gesellschaft und Politik müssen von der Wissenschaft sehr viel anwendungsorientierter begleitet und beraten werden. Um dies leisten zu können, brauchen wir jedoch gerade in der Migrations- und Integrationsforschung deutlich mehr langfristige Strukturen, um Forschungsfelder und Forschungskonzepte zu entwickeln. Das Berliner Institut für empirische Integration- und Migrationsforschung der HU versucht gerade, solche Schritte des strukturellen Ausbaus dadurch vorzubereiten, dass es den Weg zu einem dauerhaften Interdisziplinären Zentrum an der HU einschlägt. Durchaus mit der Perspektive, sich mit ähnlichen Forschungseinrichtungen zusammen noch besser zu organisieren.

Das Interview führte Ibou Diop

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