Prekäre Beschäftigung – prekäres Leben?
Ein wenig anerkannter Job wird durch ein intaktes
Privatleben aufgewertet. Foto: Colourbox.de
Veronika Vetter ist Mitte fünfzig, alleinstehend und hat eine Ausbildung in der Versicherungsbranche gemacht. Ihr Berufszweig hat sich stark verändert. Viele Jahre arbeitete sie unter großen Belastungen, bis sie schließlich krank wurde. Ulrike Urban ist Mitte vierzig, ebenfalls alleinstehend und in der Pflege tätig. Dort wird sie für wenige Stunden bezahlt, arbeitet aber rund um die Uhr. Sie wirkt zermürbt. Was beide Frauen vereint: Sie sind prekär beschäftigt. Doch sie unterscheiden sich darin, wie sie mit ihrer prekären Beschäftigung leben: Veronika Vetter beschließt nach ihrer Krankheit, künftig mehr auf sich zu achten. Sie begibt sich auf einen spirituellen Pfad, über den sie neue Freundschaften gewinnt. Arbeit ist nicht mehr alles für sie. Ulrike Urban ist nicht nur zermürbt, weil sie für wenig Geld rund um die Uhr pflegt, sondern weil sie ihre Partnerlosigkeit betrauert. Sie hätte gerne eine Familie gegründet.
Wenn in den Sozialwissenschaften über Prekarität gesprochen wird, stehen meist prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Zentrum: etwa Leiharbeit, unfreiwillige Teilzeit, geringfügige Beschäftigung oder Soloselbstständigkeit. Also, eine Beschäftigung ohne Existenz sicherndes Einkommen, wenig Sicherheiten und Planbarkeit. Doch die Beschränkung auf Erwerbsarbeit ist verkürzt, denn Prekarität kann abgemildert oder auch verschärft werden, wenn man sämtliche Lebensbereiche und nicht nur Erwerbsarbeit betrachtet.
"Beziehungen sind wichtige Quellen für Anerkennung"
Eine solche erweiterte Perspektive entwickelt das Projekt „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit’ und ‚Liebe’ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“. Es wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert und von Christine Wimbauer, Professorin für Soziologie der Arbeit und der Geschlechterverhältnisse, geleitet. „Wir gehen davon aus, dass alle Menschen nach Anerkennung streben. In unserer Gesellschaft zählt aber vor allem Anerkennung für Leistung in der Erwerbsarbeit“, erklärt Projektmitarbeiterin Dr. Mona Motakef. „Aber auch Beziehungen sind wichtige Quellen für Anerkennung.“
Kann fehlende Anerkennung in der Erwerbsarbeit durch Anerkennung in anderen Lebensbereichen, insbesondere Beziehungen, abgemildert oder verschärft werden? In mehrstündigen Einzel- und Paarinterviews befragten Mona Motakef und Ellen Ronnsiekdazu acht Alleinstehende und fünf Paare in prekärer Beschäftigung. Was Ulrike Urban sich so sehr wünscht, eine Paarbeziehung, ist jedoch kein Garant für eine Kompensation fehlender Anerkennung. Das Paar Christiansen/Caspar, beide Mitte vierzig, hat zwei gemeinsame Kinder. Clemens Caspar ist seit vielen Jahren aushilfsmäßig beschäftigt oder arbeitslos, Caroline Christiansen ernährt freischaffend die Familie. Clemens Caspar sieht in der Arbeit Fremdbestimmung und Zwang. Wenn Caroline Christiansen Missstände in ihrer Arbeit anprangert, hält Clemens Caspar sich die Ohren zu. Im Paarinterview beklagt sie die fehlende Anerkennung durch ihn, doch er unterstellt ihr, sie wäre von ihrer Arbeit geradezu besessen: „Du brauchst dat ja wirklich“. Beim Paar Christiansen/Caspar verschärft die fehlende Anerkennung in der Arbeit und in der Paarbeziehung die Prekarität von Frau Christiansen.
Konferenz am 2. und 3. März
Die Projektergebnisse zeigen, dass fehlende Anerkennung in der Erwerbsarbeit abgemildert, kompensiert oder verschärft werden kann, aber auch an Relevanz verlieren kann, wenn die Prekarität anderer Lebensbereiche bedeutsamer wird. „Um ein umfassendes Verständnis für Prekarität entwickeln zu können, sollte der gesamte Lebenszusammenhang zum Ausgangspunkt genommen werden“, sagt Mona Motakef. Deutlich zeigen sich auch die sozialdestruktiven Folgen, wenn Arbeit als Quelle von Anerkennung im Mittelpunkt steht: Das Versprechen für Anerkennung in der Arbeit wird mit der Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse nicht nur immer seltener eingelöst, auch wird häufig Raum für andere zentrale Lebensbereiche verdrängt. Wer wie Ulrike Urban Fürsorge leistet oder wie Veronika Vetter eine Krankheit hat, für den ist in der Erwerbsarbeitsgesellschaft schlichtweg wenig Platz.
Ein erweitertes Verständnis von Prekarität und Prekarisierung steht im Zentrum der vom 2. bis 3. März 2017 stattfindenden Konferenz „Prekarisierung Unbound? Zum gegenwärtigen Stand der Prekarisierungsforschung aus interdisziplinärer Perspektive“. Es wird vom Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) und dem DFG-Projekt „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit’ und ‚Liebe’ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“ in Kooperation mit dem Institut für Sozialwissenschaften und der Sektion Soziale Ungleichheit der Deutschen Gesellschaft für Soziologie veranstaltet.
Der Text erschien ursprünglich in der Februar-Ausgabe der Humboldt-Zeitung