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Bis dass der Tod sie scheidet: Männerfreundschaften im Wandel

Prof. Andreas Kraß vom Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) hat ein Buch über Männerfreundschaften in der Literatur geschrieben
Nikolai Ge, Achill klagt um Patroklos (1850)

Nikolai Ge, Achill klagt um Patroklos (1850)
Foto: Creative Commons/Public Domain

Der Literaturwissenschaftler und Mediävist Prof. Andreas Kraß hat ein Buch über Männerfreundschaften in der Literatur geschrieben. Darin stellt er fest, dass der Ausdruck von Emotionen zwischen Männern oft als homoerotisch gedeutet wird. Meist kann nur der Tod eine innige platonische Beziehung zwischen Männern legitimieren.
Andreas Kraß forscht und lehrt am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Sein Schwerpunkt ist die deutsche Literatur des Hochmittelalters.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, sich mit dem Thema „Männerfreundschaften“ zu befassen?

Andreas Kraß: Die Literaturgeschichte hat viele weibliche „Leichen im Keller“. Inspiriert von Nur über ihre Leiche, einem Buch der Züricher Anglistin Elisabeth Bronfen, wollte ich den komplementären männlichen Untersuchungsgegenstand thematisieren. Mir fiel auf, dass sehr viele männliche Freundschaftsgeschichten auf der Prämisse basieren, dass einer der beiden Freunde stirbt: Der Überlebende klagt über den Verlust und die tiefe Beziehung in Form einer Totenklage. Freundschaft wird als Passion im doppelten Sinne verstanden: als Leidensgeschichte, aber auch als innige Beziehung. Ursprünglich wollte ich das Buch deshalb Nur über seine Leiche nennen.

Wie hat sich die Männerfreundschaft literarisch im Laufe der Zeit gewandelt?

In der Antike ist die Männerfreundschaft politisiert. Bei Cicero geht es zum Beispiel um die Beziehungen zwischen Staatsmännern im Zeichen der Tugend. Oft verbrüdern sich Freunde als Waffenbrüder im Kampf. Im Mittelalter vollzieht sich dann eine Emotionalisierung.

Das liegt wohl auch daran, dass in dieser Epoche die Religion einen starken Einfluss auf den Freundschaftsdiskurs hatte. Die Rhetorik verdankt sich der Mystik, die auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch als Freundschaft versteht. Gott wird als jemand dargestellt, den man persönlich lieben kann. Gleichzeitig steigert sich die affektive Qualität der mittelalterlichen Erzählungen: Liebe wird mit Intimität gekoppelt, Freundschaft als eine Art gleichgeschlechtliche Liebe verstanden.

Schmierereien an den Wänden

Prof. Andreas Kraß
Foto: Sabine Hauf

Ab welchem Zeitpunkt wird die freundschaftliche Liebe unter den Verdacht der Homosexualität gestellt?

Die heutige idealisierte Form von Liebe zwischen Mann und Frau wird seit ca. 1800, also dem Beginn der literarischen Romantik in den Vordergrund gerückt. Der Diskurs der Homosexualität entsteht im 19. Jahrhundert mit Theorien wie der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Sexualwissenschaft Magnus Hirschfelds. Diese neuen Diskurse lenken den Blickwinkel der Leserin und des Lesers in eine bestimmte Richtung. Erst mit dem Tod des Protagonisten erhält der trauernde Freund eine Lizenz zur emotionalen, affektiven Äußerung. Intimität tarnt sich als Trauer.

Unsere heutige Gesellschaft betrachtet Beziehungsverhältnisse zunehmend liberaler und vielschichtiger. Wie nimmt dieser Trend Einfluss auf literarische Texte?

Der letzte Text, den ich in meinem Buch behandle, der Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf, bildet meiner Meinung nach den Silberstreif am Horizont. In der Jungenfreundschaft, von der der Roman erzählt, stellt sich heraus, dass die Titelfigur Tschick schwul ist. Bei den beiden ist es aber kein Problem, Tschicks Freund Maik wünscht sich sogar schwul zu sein, weil das die Bindung verstärken würde. In dem Moment, in dem Homosexualität kein Problem mehr darstellt und die Differenz von Liebe und Freundschaft keine große Rolle mehr spielt, muss keine Figur mehr sterben.

Wie beurteilen Sie aktuelle, von den Medien porträtierte, politische Freundschaften? Sind diese als eine Rückbesinnung auf ein politisiertes Freundschaftsmodell der Antike zu deuten?

Es gibt heute wieder die politische Inszenierung der Männerfreundschaft, aktuell zum Beispiel zwischen Donald Trump und Vladimir Putin. Sie neigen dazu, öffentlich an das alte Pathos der Männerfreunde anzuknüpfen, und wie mir scheint, ist das oft ein Erkennungszeichen für autokratische Herrscher. Es gibt natürlich auch politische Freundschaften zwischen männlichen und weiblichen Staatsführern, allerdings fehlt da eben dieses inszenierte männliche Pathos.

Das Gespräch führte Hannah Nieswand

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