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Der Mann, der Berlin von den Trichinen befreite

Grafik von Rudolf Virchow und einem Mikroskop mit rotem Hintergrund

 Grafik: Jan Steins

Rudolf Virchow war Mediziner, Universitätsprofessor und Sozialpolitiker. Dem vor 200 Jahren geborenen Wissenschaftler verdankt Berlin unter anderem sein Wasser- und Abwassersystem und die systematische Fleischbeschau in Schlachthäusern. Im Interview gibt Kuratorin Anna Szöke vom Tieranatomischen Theater Einblicke in die Ausstellung „Rudolf Virchow im Trichinentempel“, die am 13. August im Rahmen des Open Humboldt Festivals eröffnet wurde.

Frau Szöke, wie wirkte Rudolf Virchows Forschung zur "Lehre von den Trichinen" auf die Forschung, auf Schlachtbetriebe und auf das soziale Leben im damaligen Berlin? Und sind seine Forschungsergebnisse auch heute noch relevant?

Anna Szöke: Wir müssen Rudolf Virchows Forschung und sein Interesse an den Trichinen, also haardünnen Fadenwürmern, im Kontext seiner Zeit betrachten. Berlin war Mitte des 19 Jahrhunderts gekennzeichnet durch schlecht gepflasterte Straßen. An denen sammelten sich Schmutzwasser und Hausabfälle. Es fehlte eine Kanalisation, deren Bau 1873 begann. Es fehlte bis zur Eröffnung des ersten Wasserwerkes 1856 eine zentrale Wasserversorgung und es gab keinen zentralen Vieh-und Schlachthof. Das Schlachten von Tieren wurde in Schlachthäusern und privaten Metzgereien, teilweise in unhygienischen Hinterhöfen durchgeführt. Zugleich erlebte die Stadt ein deutliches Bevölkerungswachstum. Berlin hatte ein Hygiene- und Versorgungsproblem. Und Virchow brachte die schlechten Wohnbedingungen in Mietskasernen und kleinen Wohnungen mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung in Zusammenhang.

Die Trichinose wurde 1860 als tödliche Krankheit von Friedrich Albert von Zenker entdeckt. Virchow wollte aktiv gegen sie vorgehen. So schlug er vor, Ärzte, Apotheker und Lehrer im Gebrauch von Mikroskopen zu unterweisen, damit diese eine Fleischbeschau nach Trichinen vornehmen könnten. 1864 forderte Virchow in der Berliner Stadtverordnetenversammlung den Bau eines öffentlichen, hygienischen Schlachthauses mit zentraler Fleischbeschau nach Trichinen und mit einer Kanalisation. Im selben Jahr veröffentlichte er seine „Lehre von den Trichinen“ und ließ preisgünstige Mikroskope für die Fleischbeschau entwickeln. In den folgenden Jahren hielt Virchow Vorträge, auch für die Schlächterinnung. 1877 schließlich wurde die amtliche Einführung der Fleischbeschau in Preußen beschlossen.

Die Trichinenschau ist in ihren Grundzügen bis heute erhalten geblieben – natürlich mit weit besseren technischen Voraussetzungen und einer Standardisierung. So besteht unter dem Fleischhygienegesetz eine Untersuchungspflicht für Fleisch von Haus-und Wildschweinen, Befall meldungspflichtig.

„Rudolf Virchow im Trichinentempel“ – Was konkret erwartet die Besucher:innen in der Ausstellung? 

Szöke: Die Ausstellung soll Besucher:innen zur Diskussion und Teilnahme anregen, über die Entdeckung der Trichinosis als tödlicher Krankheit und über die Einführung der Fleischbeschau. Ausgehend vom Trichinenmikroskop als epistemischen Objekt – immer neues Wissen produzierend – knüpft die Ausstellung Fäden zu unterschiedlichen Themen und Akteur:innen: Da ist der „Trichinenstreit“, die  Medizin als Soziale Wissenschaft, das Koloniale Sammeln, oder die Einführung und Reform des Schlachtens von Tieren. 
Besucher:innen sollen aktiv Fragen stellen und neue Themen vorschlagen, um  auch vorhandene Leerstellen zu füllen. Die Ausstellung ist also kein fertiges Produkt, sondern ein laufender Prozess. Der Illustrator Jan Steins veranschaulicht Themen und Darsteller:innen auf einer Wand, an der sie sich, je nach Konstellation, mal im Zentrum, mal abgestellt in einer Vitrine befinden. Das physische Verschieben und Austauschen der einzelnen Elemente – im Rahmen von Gesprächsrunden einmal im Monat – wird neue Bedeutungsschwerpunkte und Spannungsverhältnisse zwischen einzelnen Akteur:innen zueinander ergeben.

Inwieweit wird sich die Ausstellung mit Virchows Wirken auseinandersetzen, etwa mit seiner Schädelsammlung oder seiner Untersuchung zu "Rassenmerkmalen bei Schulkindern“? 

Szöke: Rudolf Virchow war nicht nur einflussreich für die Entwicklung der Pathologie und der Berliner Stadtentwicklung, sondern auch maßgebend für die Etablierung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1869. Auch drängte Virchow seine Kollegen (es sind derzeit keine Frauen als aktive Mitglieder bekannt) dazu, einen   nationalen Dachverband einzurichten, der dann 1870 gegründet wurde. Rudolf Virchow untersuchte und sammelte im Laufe seines Wirkens zahllose menschliche Schädel aus aller Welt und trug dazu bei, dass die Rassenkunde wissenschaftlich etabliert wurde. So waren nach ihm physische Merkmale charakteristisch für bestimme „Typen“. Wir werden im Rahmen von Gesprächsrunden die Verbindungen Virchows zum Kolonialen Sammeln, zur Rassenkunde sowie zum Antisemitismus ausführlich und intensiv diskutieren.

Welches ist Ihr persönliches Highlight in der Ausstellung?

Szöke: Da sind die unerwarteten Perspektivenwechsel auf der interaktiven Wand, die sich basierend auf Diskussionen ergeben werden. Zudem haben wir besondere Leihgaben aus der Zoologischen Lehrsammlung des Instituts für Biologie, HU Berlin sowie aus dem Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité. 

Die Fragen stelle Kathrin Kirstein

Termin

Open Humboldt Festival | Ausstellung: Rudolf Virchow im Trichinentempel

Eine Ausstellung des Tieranatomischen Theaters zum interdisziplinären Zusammenwirken der Medizin, Technologie und Sozialpolitik, angestoßen durch Rudolf Virchow.

Freitag, 13. August 2021 – Sonntag, 29. August 2021

14.00 – 18.00 Uhr, Tieranatomisches Theater

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