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Ethik und Nachhaltigkeit: Über das Vergnügen des Verzichts

Interview mit Prof. Dr. Torsten Meireis über die bedeutende Rolle der Ethik für die Nachhaltigkeitsdebatte und warum Verzicht und Wohlstand kein Widerspruch sind.

In Diskussionen, wie eine nachhaltige Gesellschaft und Wirtschaft gestaltet werden soll, stehen wir immer wieder vor ethischen Fragen: Wer zahlt für die Schäden von Naturkatastrophen? Wie verteilen wir die begrenzten Ressourcen? Und ist jede:r einzelne für nachhaltiges Handeln selbst verantwortlich? Mit der Ethik der Nachhaltigkeit und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit beschäftigt sich Torsten Meireis, Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Während des Open Humboldt Festivals, beim Zukunftsforum am 21. August, bietet er einen Workshop zum Thema „Ethik und Nachhaltigkeit“ an. Im Interview betont der ehemaligen Schulpfarrer die bedeutende Rolle der Ethik für die Nachhaltigkeitsdebatte und zeigt, warum Verzicht und Wohlstand kein Widerspruch sind.

Unter Nachhaltigkeit versteht man meist Klima- und Umweltschutz sowie wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit. Welche Rolle spielen ethische Fragen?

Torsten Meireis: Schon wenn man die Formulierungen des Brundtland Berichts von 1987 anschaut, der im allgemeinen als Anfangspunkt der internationalen politischen Nachhaltigkeitsdebatte gilt, wird normative Grundierung des gesamten Prozesses deutlich. Denn dort ist zum Beispiel davon die Rede, dass Armut ein Übel in sich selbst darstellt, oder dass allen Menschen ermöglicht werden müsse, ihre Hoffnungen nach einem besseren Leben zu erfüllen. Im gesamten Nachhaltigkeitskontext geht es um Werturteile und moralische Prinzipien: also um Dinge, die noch nicht sind, sondern sein sollen. Und mit dem, was sein soll, beschäftigt sich die Ethik.

Welche Interessens- und Verteilungskonflikte stehen im Vordergrund?

Meireis: Es gibt natürlich unzählige Konflikte, aber vereinfacht können wir sagen, dass es im Wesentlichen drei normative Hauptkonflikte gibt. Der eine steht in der Nachhaltigkeitsdebatte klassisch im Vordergrund: es ist die intergenerationelle Frage nach dem Verhältnis der Rechte heutiger und kommender Generationen auf natürliche Ressourcen. Immer stärker wird aber deutlich, dass etwa der Klimawandel auch schon eine zweite, intragenerationelle Frage nach der Verteilung der Belastungen im globalen Zusammenhang stellt. Denn gerade diejenigen im globalen Süden, die zur gegenwärtigen prekären Lage am wenigsten beigetragen haben, leiden stärksten unter ihr, weil sie über die wenigsten Ressourcen verfügen, um den Problemen zu begegnen. Und schließlich lässt sich fragen, ob die anthropozentrische Sicht, die in den beiden ersten Konflikten vorherrscht, eigentlich plausibel ist oder ob nicht auch die nichtmenschliche Natur einen zu schützenden Wert hat.

Messen wir den ethischen Fragen bei der Gestaltung der nachhaltigen Entwicklung genug Bedeutung bei? Wie sieht das beispielsweise bei der Gestaltung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen aus?

Alle Sustainable Development Goals der Agenda 2030 sind normativ geprägt, insofern geht es natürlich immer auch um ethische und moralische Fragen. Allerdings machen wir uns das nicht immer bewusst und tun manchmal so, als seien wir hinsichtlich dieser moralischen Perspektiven alle einig – und je abstrakter die Ziele formuliert sind, desto leichter fällt das. Aber genauso wie wir uns über die angemessene Beschreibung der Welt verständigen müssen, ist das auch hinsichtlich der uns leitenden moralischen Prinzipien nötig. Und meist hilft es in der Diskussion, wenn die unterschiedlichen Dimensionen eines Problems unterschieden werden: Die eine Frage besteht darin, ob ein bestimmtes Stück Land ein mögliches Überschwemmungsgebiet darstellt oder nicht. Die normative aber ist dann, ob Baugrund in einem möglichen Überschwemmungsgebiet ausgewiesen werden und es der Selbstbestimmung und Risikoabwägung der Einzelnen überlassen werden soll, ob sie dort bauen wollen, oder ob man in der Erwägung gesellschaftlicher Kosten eines Überschwemmungsfalls die Selbstbestimmung hintanstellt und dort eben keinen Baugrund ausweist. 

Fortschritt und Globalisierung ermöglichen heute mehr Wohlstand denn je. Lässt sich wachsender Wohlstand mit Nachhaltigkeit kombinieren?

Selbstverständlich – es kommt aber natürlich auch darauf an, was wir unter 'wachsendem Wohlstand' verstehen. Wenn damit gemeint ist, dass die Lebenserwartung auf der ganzen Welt steigt, dass die Kindersterblichkeit sinkt, dass Menschen über Bildung und den Zugang zu öffentlicher Infrastruktur verfügen sowie eine grundlegende soziale Sicherheit genießen, ist das ohne weiteres möglich. Wenn damit aber gemeint ist, dass jede und jeder so leben können soll wie Jeff Bezos oder Richard Branson, dann wird das eher schwierig.

Sie sagten einmal: „Wenn alle genug haben, sind alle vergnügt.“ Ist das ein Weg?

Das hebt auf die Etymologie von Vergnügen ab, die tatsächlich 'genug haben' und 'Freude empfinden' verknüpft – damit ist aber die ethische Frage verbunden, was eigentlich genug ist und wie genau von wem darüber entschieden wird. In der christlichen Tradition gibt es hier den Begriff der Fülle, der darauf abhebt, dass es ein angemessenes Maß gibt und das 'immer mehr haben wollen' weder individuell noch kollektiv eine plausible Lebenseinstellung ist. 

Oder ist geht es eher um Einschränkung, Verzicht und Verantwortung sind ja im Trend?

Vergnügen und Einschränkung sind keine Gegensätze: Die Hängematte fühlt sich besonders angenehm an, wenn ich vorher eine anstrengende Radtour gemacht habe und Mäßigung wird schon von den antiken Profis der Freude, den Epikureern, als Königsweg zum Vergnügen empfohlen. Zeit für etwas zu haben, das mich erfreut oder mir Erfüllung verheißt, bedeutet immer auch, dass diese Zeit nicht für anderes zur Verfügung steht: Aber genau das wird dann ja auch nicht als Entbehrung erlebt.

Viele Schäden, die der Mensch der Erde zugefügt hat, sind irreversibel. Wie können wir mit dieser Schuldenlast umgehen – und wie aus den Fehlern lernen?

Wir müssen sie solidarisch tragen, die Leidtragenden um Vergebung bitten, uns gleichzeitig um Wiedergutmachung bemühen und verantwortlich mit der Zukunft umgehen. 

Ihr Workshop zum Thema Ethik und Nachhaltigkeit ist Teil des „Zukunftsforums“ auf dem Open Humboldt Festival. Wie sehen Sie die Zukunft unseres Planeten?

Trotz allem voller Hoffnung: Das hat mit der Lernfähigkeit von uns Menschen, aber natürlich auch mit meinem christlichen Hintergrund zu tun. 

Eine Veranstaltung auf dem Open Humboldt Festival beschäftigt sich auch mit der Frage, welchen Beitrag Religionen für eine nachhaltigere Welt leisten. Was ist Ihre Meinung dazu aus protestantischer Sicht?

Bereits der Erfinder des Nachhaltigkeitskonzepts wie wir es heute kennen, der sächsische Bergbauminister Hans Carl von Carlowitz, argumentierte im 18. Jahrhundert vom christlichen Bewahrungsauftrag der Schöpfung her. Und schon in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts., lange bevor das Stichwort der 'sustainability', der Nachhaltigkeit, in der Brundtland-Kommission und den Vereinten Nationen Furore machte, propagierten etwa die christlichen Kirchen die 'sustainable society', die 'nachhaltige Gesellschaft', die Naturschutz und Gerechtigkeit verbinden sollte.

Auch in vielen indigenen Religionen werden Einsichten über den angemessenen Umgang mit der Natur tradiert. Und seit der Jahrtausendwende wird der wichtige Beitrag der Religionen auch im Rahmen der Vereinten Nationen wahrgenommen: Im Kontext des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) sucht die 'Faith for Earth Initiative' das Engagement der Religionen für Nachhaltigkeit zu bündeln und hier an der Humboldt-Universität reflektieren eine Reihe von Forschungsprojekten die Bedeutung der Religion für nachhaltige Entwicklung: ich nenne hier nur das neue Internationale Graduiertenkolleg 'Transformative Religion', das sich mit der Wirkung von Religion auf soziale Veränderungen beschäftigt und dabei auch die nachhaltige Entwicklung untersucht oder das 'Internationale Netzwerk religiöse Gemeinschaften und nachhaltige Entwicklung', das akademische und nichtakademische Partner:innen in der Reflexion des religiösen Beitrags zu diesem Zusammenhang verbindet.

Die Fragen stellte Cordula de Pous.

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