„Der Schutz der Menschenrechte beginnt immer bei uns“
Frau Professorin Lembke, heute am 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte. Lassen Sie uns auf Deutschland schauen, wo werden Menschenrechte auch bei uns verletzt?
Bei den Menschenrechten geht der Blick oft ins Ausland, aber der Schutz der Menschenrechte beginnt immer bei uns selbst, also bei Fragen der Menschenrechtsverwirklichung, aber auch Fragen von Menschenrechtsverletzungen in Deutschland und durch den deutschen Staat im Ausland. Deutschland hat alle internationalen Menschenrechtsverträge ratifiziert. Und sie alle werden auch verletzt. Lassen Sie mich als Beispiele nur Gewalt gegen Frauen, Rassismus und Antisemitismus, mangelnde Kontrolle bei Lieferketten, die Beteiligung am europäischen Migrationsregime oder die Verletzung von Kinderrechten, Rechten von Menschen mit Behinderungen oder reproduktiven Rechten nennen.
Wo sehen Sie die dringendsten Handlungsfelder?
Die Menschenrechte werden grundlegend missverstanden, wenn sie isoliert betrachtet und danach priorisiert werden, ob ihre Verletzung „besonders schlimm“ ist. So kann beispielsweise ein über Monate und Jahre andauernder Alltagsrassismus bei Wohnungssuche, Erwerbsarbeit, Kontakt mit Behörden, gesundheitlicher Versorgung, Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und Freizeitgestaltung ebenso belastend und mit schweren Folgen verbunden sein wie ein einmaliger rassistischer Übergriff mit körperlichen Verletzungen des:der Betroffenen. Das lässt sich nicht sinnvoll abstufen.
Was ist eine geeignete Herangehensweise?
Am dringlichsten ist, dass die Verbindlichkeit von allen ratifizierten Menschenrechtsverträgen anerkannt wird und politisches Handeln wie rechtliche Regelungen, aber auch Prioritätensetzung und Ressourcenverteilung daran orientiert werden. Das gilt in der Pandemiebekämpfung wie an den EU-Außengrenzen, in der Bildung und Gesundheitsversorgung wie bei Justiz und Polizei. Wer sich insgesamt über aktuelle Debatten und grundlegende Standards informieren will, ist beim Deutschen Institut für Menschenrechte an einer guten Adresse. Dort wird auch jährlich ein Menschenrechtsbericht veröffentlicht, welcher bestimmte Schwerpunkte setzt.
Amnesty International schlägt vor, alle Klimaschutzmaßnahmen anhand menschenrechtlicher Kriterien zu prüfen und zu gestalten. Was halten Sie von der Idee?
Der untrennbare Zusammenhang von Klimaschutzmaßnahmen und Menschenrechten wird im Pariser Klima-Abkommen ebenso thematisiert wie von den UN-Menschenrechts-Ausschüssen. Einerseits sind Klimaschutzmaßnahmen weitgehend auch menschenrechtlich geboten, denn viele Menschenrechte (beispielsweise das Recht auf Wasser) sind durch die Klimakatastrophe akut bedroht. Auch müssen Staaten beim Schutz vor Folgen der Klimakatastrophe die Menschenrechte beachten. In Deutschland sind in diesem Jahr Menschen mit Behinderungen durch eine Hochwasserkatastrophe gestorben, weil es offensichtlich an angemessenen Schutzmaßnahmen mangelte. Umgekehrt darf Klimaschutz selbst nicht zur Verletzung von Menschenrechten führen, so wenn zum Beispiel Ausgleichsmaßnahmen durch Aufforstung in Ländern des Globalen Südens erfolgen und dort Menschen von ihrem Land vertrieben werden.
In der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte (HLCMR) befassen sich Jura-Studierende mit Menschenrechtsfragen und verfassen dazu Schriftstücke. Welche Themen stehen dort im Mittelpunkt?
Die HLCMR bestimmt für jeden Jahreszyklus gemeinsam mit den Projektpartner:innen die aktuellen Themen. Diese müssen sich aus dem Bereich der Grund- und Menschenrechte ergeben. Da es viele Menschenrechtsverträge und viele spannende Grundrechtsfragen gibt, können die Themen ganz unterschiedlich sein. Die Studierenden, zu denen übrigens auch einige Studierende des Master Gender Studies gehören, verfassen jeweils zu zweit Schriftstücke im Umfang einer Masterarbeit, die sich mit einer grund- oder menschenrechtlichen Rechtsfrage befassen, welche der:die jeweilige Projektpartner:in mit uns entwickelt und dann für die weitere Arbeit selbst nutzt. Aber die Studierenden schreiben auch über aktuelle Themen kurze Beiträge auf dem Grund- und Menschenrechtsblog.
Von wem werden die Schriftstücke genutzt?
Die besten Schriftstücke werden als Working Paper auf unserer Website veröffentlicht und auch in gedruckter Form verteilt. Sie werden dann von unseren Projektpartner:innen, aber auch anderen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sowie durchaus auch von staatlichen Stellen genutzt. Ein besonderes Highlight in der Arbeit der HLCMR war fraglos, als wir gemeinsam mit engagierten NGOs unsere Expertise zu Menschenrechten von Inter*-Personen dem UN-Frauenrechtskonventions-Ausschuss vorlegen konnten, der daraufhin tatsächlich seine Auslegungspraxis geändert hat. Aber auch von Organisationen aus anderen Bundesländern, Berliner Gerichten und Behörden, Anwält:innen und rechtspolitischen Aktivist:innen kommen positive Rückmeldungen.
Vor welchen Herausforderungen stehen Studierende, wenn sie an der HLCMR teilnehmen?
Die HLCMR richtet sich weit überwiegend an Jurastudierende. Die größte Herausforderung für sie ist, dass Menschenrechte im juristischen Studium und deutschen Rechtsdiskurs kaum professionell behandelt werden. Oft kommen sie im Jurastudium gar nicht vor, obwohl sie zum geltenden Recht in Deutschland gehören. Auch die Anforderung, mit Blick auf die Rechtsmobilisierung sowie gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, praxisbezogen und stets interdisziplinär zu arbeiten, sind gar nicht so einfach zu bewältigen. In der normalen juristischen Ausbildung werden entsprechende Kompetenzen kaum vermittelt.
Wie wird die Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte finanziert?
Nach dem Ende der institutionellen Förderung vor einem Jahr ist trotz intensiver gemeinsamer Bemühungen eine weitere reguläre Finanzierung für dieses außergewöhnliche Lehrformat nicht gelungen. Die HLCMR kann aber glücklicherweise auf ein sehr breites, aktives und unterstützendes Netzwerk von Alumni:ae und Förder:innen zurückgreifen, welche als Vorbild für die Studierenden fungieren, Projektpartnerschaften übernehmen oder besondere Lehreinheiten anbieten. Aus diesem Netzwerk hat sich auch sofort ein Förderverein gebildet, welcher bereits eine beachtliche Spendensumme einwerben konnte. Finanziell und organisatorisch funktioniert die HLCMR derzeit wesentlich durch Ressourcen meiner Professur sowie durch vom Förderverein eingeworbene Mittel und Spenden. Die Situation muss aber leider (noch) als prekär bezeichnet werden.
Die Situation ist prekär, die Mittel sind knapp, der Fortbestand der HLCMR hängt von solidarischer Unterstützung und viel zusätzlicher Arbeit ab. Warum ist Ihnen persönlich die HLCMR so wichtig?
Die Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte ist ein außergewöhnliches Projekt, welches seit über einem Jahrzehnt Universität und Zivilgesellschaft zu Grund- und Menschenrechten sowie Antidiskriminierungsrecht zusammenbringt. Wir bieten exzellente Lehre, Kompetenzentwicklung und Selbstreflektion für Jurastudierende, damit diese als kritische hervorragende Jurist:innen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Viele unserer Absolvent:innen haben die HLCMR als eine Erfahrung beschrieben, welche sie überzeugt hat, dass die juristische Ausbildung sinnvoll ist. Und viele von ihnen engagieren sich weiter für Grund- und Menschenrechte, Antidiskriminierung und Inklusionspolitiken. Der Kampf für Menschenrechte beginnt immer bei uns und unserem Einsatz hierfür. Und ganz ehrlich? Es macht unglaublich Freude, engagierte Studierende auf ihrem Weg ein Stück zu begleiten. Ich bin dankbar für diese Möglichkeit.
Prof. Dr. Ulrike Lembke ist Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien. Sie leitet derzeit die Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte.
Über die Humbold Law Clinic Grund- und Menschrenrechte
Grund- und Menschenrechte verteidigen, Antidiskriminierung und Inklusionspolitiken voranbringen – in der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte arbeiten Studierende im engen Austausch mit Nichtregierungsorganisationen, Verbänden und weiteren Akteur:innen an konkreten Fällen mit direktem Bezug zur Praxis.
Die Fragen stellte Ljiljana Nikolic