„Der Krieg gegen die Ukraine hat 2014 und nicht erst 2022 begonnen“
Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, Foto: Annette Riedl
Prof. Dr. Gwendolyn Sasse ist seit Oktober 2016 die Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS). Seit April 2021 ist sie Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem jüngst erschienenen Buch „Der Krieg gegen die Ukraine“ analysiert sie die Hintergründe des russischen Angriffs und welche Folgen er für Russland, die Ukraine und den Westen hat.
Prof. Sasse, welche Motivation hatten Sie für Ihr Buch „Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen“?
Prof. Dr. Gwendolyn Sasse: Ich möchte mit dem Buch versuchen zu erklären, warum und wann es zu diesem Krieg kam. Außerdem möchte ich eine Antwort auf die Frage geben, warum die Ukrainer:innen einen derartigen militärischen und zivilen Widerstand leisten, der im Westen viele überrascht hat. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Ukraine in den letzten Jahren hätte uns dieser Widerstand nicht so überraschen sollen.
Mit Entwicklungen meinen Sie die Maidan-Proteste?
Genau. Meiner Ansicht nach spielen wiederholte Protest-Zyklen eine große Rolle dabei, ein Verständnis bei jedem Einzelnen in der Ukraine aufzubauen, was es heißt, zum ukrainischen Staat zu gehören, d.h. sich als politische und als gesellschaftliche Einheitzu verstehen. Die Ukraine ist ein von Diversität geprägter Staat und von außen betrachtet, hat man immer verschiedene ethnische, regionale, sprachliche Unterschiede mit Konfliktpotenzial im Land und mit einer prorussischen Orientierung verbunden. Und das ist eine Fehlannahme. Insbesondere die Protestwellen haben meiner Ansicht nach zu diesem geeinten Verständnis dazu beigetragen, was es heißt, zu einem gemeinsamen Staat in seinen international anerkannten Grenzen zu gehören. In der Ukraine richteten sich mehrmals Massenproteste gegen Korruption und forderten Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im eigenen Staat. Mit der „Orangenen Revolution“ 2004 und dem Euromaidan 2013/ 2014 fanden die größten Proteste statt. Eine Gesellschaft, die mehrmals durch solche Massenmobilisierungen geht, die eigentlich selten vorkommen, ist anders aufgestellt – sowohl von den Erwartungen als auch von den gesellschaftlichen Netzwerken her.
Sie haben bereits angesprochen, dass viele Beobachter:innen und Expert:innen im Westen, aber auch Putin selbst davon überrascht waren, wie stark der Widerstand der Ukrainer:innen ist. Wieso war das eine solche Überraschung für Putin? Hätte er Widerstand nicht aufgrund der vorherigen ukrainischen Proteste erwarten müssen?
Wie weit entfernt der Kreml von der Realität in der Ukraine war, ist eine der überraschendsten Erkenntnisse. Wir wissen, dass die Ukraine seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion für Russland weiterhin von großer Bedeutung war. Ebenso wissen wir, dass sich Putin in seiner imperialen Machtprojektion insbesondere auf die Ukraine konzentriert hat und das ukrainische Volk, als slawisches Volk, unter der russischen Nation subsumieren will. Die Annahme, dass man die Ukraine innerhalb weniger Tage einnehmen und die Regierung austauschen könne und dort freundlich begrüßt würde, war falsch. Es fällt mir schwer zu begreifen, dass man so weit von der Realität entfernt sein konnte und in seinem eigenen Gedankengerüst gelebt hat und dachte, man könnte diesen Plan schnell umsetzen. Ich argumentiere in meinem Buch, dass der Krieg 2014 und nicht erst 2022 begonnen hat. Der Widerstand der Ukrainer:innen kam für die westlichen Länder unter anderem deswegen überraschend, weil das Land auf seine Krisen reduziert wurde, aber der herrschende Krieg seit der Annexion der Krim nicht klar benannt wurde. Es gibt zwar durchaus sozialwissenschaftliche Forschung zur Ukraine, auch im westlichen und internationalen Kontext, aber in den Sozialwissenschaften hat diese Forschung eher ein Nischendasein gefristet. Regionale Expertise, die über westliche Länder oder einige größere Länder wie Russland oder China hinausgeht, wird grundsätzlich weniger wahrgenommen und dadurch kaum in den öffentlichen Diskurs eingespeist.
Russland bringt immer wieder die Möglichkeit eines atomaren Schlages oder eines Atomkriegs ins Spiel. Wie realistisch sehen Sie das? Wie ist Ihre Einschätzung?
Putin benutzt diese Rhetorik konstant seit Februar dieses Jahres. In der Substanz der Bedrohung sehe ich bisher keine Veränderung- Russland hat sich nicht konkret auf den Einsatz von taktischen Nuklearwaffen vorbereitet. Das heißt, es geht bisher vor allem um das Spiel mit der Angst – der Angst in der Ukraine, aber auch einer Angst im Westen. Das heißt aber nicht, dass man das Risiko klein reden darf. Natürlich ist es beunruhigend, wenn diese Argumente überhaupt so vorgetragen werden. Die Reaktionen aus den USA und der NATO zeigen, dass man die Lage ernst nimmt. Leider ist bei so einem Krieg auch nicht ausgeschlossen, dass die Situation weiter eskaliert. Bereits die inzwischen kontinuierlich stattfindenden russischen Luftangriffe auf zahlreiche Städte in der Ukraine, sind eine weitere Stufe der Eskalation.
Vor welchen Herausforderungen werden Europa und Deutschland in Zukunft noch stehen?
Wir ahnen nur, dass wir an einer Zäsur stehen. So können wir momentan davon ausgehen, dass der Krieg noch viele Monate, vielleicht sogar noch Jahre dauern wird. Das wiederum heißt, dass im Westen und auch bei uns in Deutschland Kosten entstehen, beispielsweise wenn wir an Energielieferungen, an die Wirtschaft oder auch an globale Verflechtungen wie auf den Agrarmärkten denken.
Die Zeit ist momentan von Unsicherheiten geprägt, aber es zeichnet sich ab, dass sowohl regional als auch global die Strukturen internationaler Institutionen angepasst werden müssen. Wir müssen neu über Abhängigkeiten und wirtschaftliche Verflechtungen nachdenken. Auch erhöht sich der Druck auf Demokratien, diese Art der notwendigen Umstrukturierungen durchzuziehen und zugleich soziale und politische Kosten abzufedern. Wir ahnen, dass es große politische und wirtschaftliche Veränderungen geben wird – sowohl in Deutschland, als auch regional und global. Die Gesellschaften müssen natürlich dabei mitziehen. Ein konkretes Beispiel für ein Umdenken ist die Neudefinition von Sicherheit, die die militärische Dimension stärker einbezieht, als es vielen in Deutschland in den letzten Jahrzehnten notwendig erschien.
An der HU und auch an anderen Universitäten gibt es ukrainische Studierende und Forschende. Wie sollten Hochschulen diese Gruppen weiterhin unterstützen?
Es muss klar sein, dass es für die ukrainischen Studierenden und die ukrainischen Wissenschaftler:innen, die durch Stipendien oder Fellowships an die HU oder anderen Universitäten gebunden sind, auch nach Ende der häufig kurzfristigen Stipendien oder nach einem Studienjahr weitere Anschlussmöglichkeiten daran geben muss. Es ist nicht realistisch, dass ukrainische Studierende oder Forschende zum jetzigen Zeitpunkt in ihre Heimat zurückkehren. Daher sehe ich es auch als unsere Verantwortung in der Wissenschaft und innerhalb der Universität an, dass wir daran mitwirken und uns noch stärker darum bemühen, Möglichkeiten für weitere Unterstützung und zumindest mittelfristig angelegte Einbindung zu schaffen.
Das Interview führte Kathrin Kirstein.