Presseportal

Über Freiräume zu sexueller Selbstbestimmung

Bedürfnisse nach Zuneigung, Liebe, Partnerschaft oder Sexualität sind allen Menschen gemein. Doch für manche ist es schwierig, ihre Wünsche zu realisieren – beispielsweise für Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistigen Beeinträchtigungen, die in Wohneinrichtungen leben. Das Forschungsprojekt ReWiks („Reflexion, Wissen, Können“), das von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gefördert wird, beschäftigt sich seit 2014 mit den Herausforderungen für die sexuelle Selbstbestimmung und unterstützt Einrichtungen dabei, Freiräume für Bewohnerinnen und Bewohner zu schaffen.

Im Interview spricht Prof. Dr. Sven Jennessen, Professor für Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin, über die Hintergründe des Projekts und die Ziele der neuen Förderperiode, die von Juni 2019 bis Mai 2022 läuft.

Menschen mit Behinderung werden oft als Personen wahrgenommen, die keine Liebesbeziehungen und keine Sexualität haben. Woher kommt das?

Diese Vorstellungen gehören in den Bereich der Mythen und Vorurteile. Menschen mit Behinderung haben die gleichen Wünsche und Bedürfnisse, was Zuneigung, Liebe und Sexualität angeht, wie alle anderen Menschen auch. Lange wurde ihnen aber abgesprochen, dass sie in der Lage sind, Beziehungen zu führen oder überhaupt solche Bedürfnisse zu entwickeln. Andererseits gibt es die Vorstellung, dass sie einen übertriebenen Sexualtrieb haben. Auch das gehört in den Bereich der Mythen. Zum Teil halten sich diese Vorurteile immer noch, auch in den Einrichtungen, in denen Menschen leben und arbeiten. Andererseits gibt aber schon seit 30 Jahren Versuche darüber aufzuklären, dass Menschen mit Behinderung die gleiche Bandbreite an Wünschen und Bedürfnissen haben wie alle anderen.

Allerdings können sie diese häufig nicht ausleben. Woran liegt das?

Wenn Mitarbeitende in Wohneinrichtungen die Haltung haben, dass Sexualität und Liebe für Bewohnerinnen und Bewohner kein Thema ist, werden auch keine Möglichkeiten geschaffen, solchen Wünschen Raum zu geben. Wir gehen davon aus, dass solche sogenannten Kontextfaktoren die Hauptursache für nicht gelebte Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit Behinderungen sind. Wobei wir genauer hingucken müssen, um welche Personengruppe es geht. In unserem Projekt stehen vorrangig Menschen mit Lernbeeinträchtigung oder sogenannter geistiger Behinderung im Fokus. Menschen mit anderen Formen von Sinnes- oder Körperbehinderungen stehen vor anderen Herausforderungen, die weniger in der Beschneidung von außen liegen. Denn sie können viel eher für ihre Rechte eintreten als Menschen mit geistiger Behinderung.

Wenn nun doch Wünsche nach Nähe und Zuneigung geäußert werden – was ist daran problematisch?

In Wohneinrichtung gibt es häufig noch eine Kultur des Verhinderns von Sexualität, Liebe und Partnerschaft – gerade bei Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung. Vorrangig wurden dabei die negativen und problematischen Aspekte gesehen: sexueller Missbrauch, sexualisierte Gewalt zwischen Menschen mit Behinderung, Verhütung oder die Verhinderung von Geschlechtskrankheiten. In den letzten Jahren aber verbreitet sich zunehmend die Einsicht, dass Sexualität für alle Menschen eine positive Lebensenergie darstellt. Das ist auch eine Intention unseres Projektes. Wir sehen Sexualität als etwas, das für alle Menschen ein Gewinn an Lebensqualität sein kann.

Ihr Forschungsprojekt läuft seit 2014. Was sind die Ziele von ReWiks?

Hintergrund für das Projekt waren drei große Erkenntnisse: Erstens, dass Menschen mit Behinderungen, die in Privathaushalten oder in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben, ein erhöhtes Risiko haben, sexualisierte Gewalterfahrungen zu machen. Das ist empirisch nachgewiesen. In den Einrichtungen herrschen oft täterfreundliche Strukturen. Außerdem verfügen Bewohnerinnen und Bewohner oft selbst nur über mangelhaftes Wissen um die eigene Sexualität. Die zweite Grundlage ist die Notwendigkeit, Kompetenz auf der Ebene der Mitarbeitenden und auf der Ebene der Bewohner zu entwickeln, das heißt Wissen und Bewusstsein für die eigene Sexualität zu fördern. Drittens geht es darum, Einrichtungen als Ganzes weiterzuentwickeln, damit das Thema ein selbstverständlicher Bestandteil der Organisationskultur wird. Wir haben dieses Projekt mit drei beteiligten Partnern, der Katholischen Hochschule in Münster, der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum und der Humboldt-Universität entwickelt.

Was sind die Ergebnisse der ersten Förderperiode?

Wir haben ein umfangreiches Medienpaket entwickelt, das im März publiziert wird und über die BzgA bestellbar ist. Die Materialien haben wir in schwerer und in leichter Sprache entwickelt, damit Mitarbeitende sowie Bewohnerinnen und Bewohner sie nutzen können, um sexuelle Selbstbestimmung in ihren Einrichtungen zum Thema zu machen. Außerdem haben wir an der Katholischen Hochschule in Münster ein Konzept für Fortbildungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwickelt. Der dritte Baustein sind die „Freiräume: Sexualität und ICH“, in denen Bewohnerinnen und Bewohner außerhalb ihrer Einrichtung zusammenkommen und sich mit Fragen zu Liebe, Sexualität und Partnerschaft auseinandersetzen. Es gibt jetzt drei Pilot-Freiräume in der Südpfalz. Die Idee ist, dass es dabei keinerlei Zugriff von den Mitarbeitenden auf das gibt, was in den Freiräumen passiert.

Wie geht es nun weiter?

Das Projekt ist im Juni 2019 mit einer neuen Laufzeit von drei Jahren gestartet. Dabei gibt es wieder drei Projektbausteine. Der erste ist, dass wir die Lotsenfortbildungen für die Mitarbeitenden weiterführen und an sechs unterschiedlichen Standorten in Deutschland anbieten. Der zweite Baustein sind die Freiräume für Bewohnerinnen und Bewohner, die wir mit den Erfahrungen, die wir aus der Südpfalz haben, an vier bis sechs Standorten etablieren – immer angedockt an Zentren für selbstbestimmtes Leben oder vergleichbare Selbsthilfeorganisationen. Wir wollen, dass keine Macht- und Hierarchieverhältnisse die Themen der Bewohnerinnen und Bewohner beeinflussen. Das dritte ist, dass wir das umfangreiche Medienpaket in der Praxis weiterentwickeln. Wir gucken: Was davon kommt gut an? An welchen Stellen gibt es noch Korrekturbedarf? Das Interesse an dem Thema und an den Materialien ist sehr groß.

Wie reagieren Bewohnerinnen und Bewohner auf die Freiräume?

Bei den Freiräumen in der ersten Förderphase haben wir gemerkt, was für unglaubliche Entwicklungen die Bewohnerinnen und Bewohner machen. Da liegen auf einmal ganz viele Themen auf dem Tisch, die gar nichts mit Sexualität zu tun haben, sondern mit Selbstbestimmung im Alltag. Beispielsweise bei der Frage „Darf mein Partner oder meine Partnerin bei mir übernachten?“ geht es um Selbstbestimmung: Wer darf bei mir zu Besuch sein und wie lange? Darf ich mein Zimmer abschließen? Da merken wir, dass sich durch die Freiräume viele Themen öffnen und sie selbstbewusster ihre Rechte einfordern. Häufig denken sie, es sei ok, wenn die Wohneinrichtung ihnen bestimmte Dinge verbietet. Wenn sie dann erfahren: Es ist ihr Recht, dass sie Besuch empfangen, dann merken wir, dass ganz viel passiert. Das läuft natürlich nicht reibungsfrei. Wir bemerken auch viel Ärger und Unruhe in den Wohneinrichtungen. Aber das ist der Sinn. Sexuelle Selbstbestimmung braucht erst mal Unruhe und Reibung, um verwirklicht werden zu können.

Die Fragen stellte Inga Dreyer.