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COVID-19 hat die Spielregeln für europäische Städte verändert

Eine neue Studie unterstreicht, dass die COVID-19-Pandemie dramatische Auswirkungen auf die urbanen Entwicklungen in Europa hatte, da 63 Prozent aller Städte in ganz Europa heute Bevölkerung verlieren oder „schrumpfen“
Alternativtext

 Typologie demografischer Faktoren 2020

Seit Beginn der COVID-19-Pandemie ist eine kontroverse und weitgehend spekulative Debatte entbrannt, inwieweit die Pandemie zu einer Wachstumsverlangsamung oder sogar zu einer Umkehrung der zuvor rasant steigenden Urbanisierungstrends führen könnte. „Die Pandemie zerstört die Anziehungskraft von Megastädten“, verkündete Anfang 2020 eine Zeitungsschlagzeile. „Große urbane Zentren sind die neuen Pestzentren“, prognostizierte eine andere auf dem Höhepunkt der ersten Welle von COVID-19.

Manuel Wolff von der Humboldt-Universität zu Berlin und Vlad Mykhnenko von der University of Oxford sind die ersten Wissenschaftler, die übergreifende Muster sowie das Ausmaß des plötzlichen und akuten Schocks von COVID-19 auf lange Sicht analysieren und deuten. Damit wollen sie eine dringend benötigte Klarheit schaffen in Bezug auf die Unsicherheit, Verwirrung und grundlosen Spekulationen rund um dieses umstrittene Thema.

Bevölkerungswachstum in europäischen Städten deutlich verlangsamt

Die Autoren fanden heraus, dass die jüngsten Urbanisierungstrends in Europa im ersten Jahr der Pandemie dramatisch unterbrochen wurden: Das Bevölkerungswachstum in europäischen Städten verlangsamte sich deutlich auf -0,3 Prozent pro Jahr, verglichen mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von +0,3 Prozent in den Vorjahren der Pandemie. Dieser plötzliche Schock war besonders ausgeprägt in den 66 größten Ballungsräumen Europas (Städte mit 500.000 Einwohnern und mehr), von denen 93 Prozent einen Rückgang der Wachstumsraten ihrer Bevölkerung verzeichneten. Darüber hinaus hat fast ein Drittel (28 Prozent) aller 915 analysierten europäischen Städte eine Kehrtwende von Bevölkerungswachstum zu Verlust erlebt. Rechnet man die zuvor schrumpfenden Städte zur Gesamtzahl hinzu, erreichte der Anteil der schrumpfenden Städte in Europa während COVID-19 einen ziemlich außergewöhnlichen Anteil von 63 Prozent – ein Anteil, der weit über dem bisherigen Höchststand Ende der 1990er Jahre lag, als 55 Prozent aller europäischen Städte Bevölkerung verloren. Im Gegensatz dazu verloren nach den frühesten aufgezeichneten Daten im Zeitraum 1960-1965 nur 3 Prozent der europäischen Städte Bevölkerung.

Die Studie, welche die Ursachen für den Verlust der städtischen Bevölkerung in Europa während COVID-19 aufzeigt, weist nachdrücklich auf den schnellen Rückgang der Nettomigration um bis zu 137 Prozent hin, wobei die Zahl der Einwohner, die Städte verlassen, viel höher ist als die Zahl der Neuankömmlinge, vor allem in den größten Ballungsgebieten. Darüber hinaus sind in den meisten europäischen Ländern die Sterblichkeitsraten in Städten schneller gestiegen als auf dem Land – insgesamt um 13,5 Prozent.

COVID-19-bedingter Sterbeüberschuss am stärksten in kleineren Städten

Mit Blick auf die Zukunft sagte der Hauptautor der Studie, Manuel Wolff: „Kurzfristig war es der außergewöhnliche pandemiebedingte Rückgang der Nettomigration, welcher maßgeblich für den plötzlichen Schock für europäische Städte verantwortlich war.

Doch auf lange Sicht wird der natürliche Bevölkerungsrückgang – der Überschuss an Todesfällen gegenüber Geburten – zum Hauptproblem der meisten europäischen Städte, insbesondere kleinerer Städte, welche am stärksten vom COVID-19-bedingten Sterbeüberschuss betroffen sind.“

COVID-19 hat bestehende Trends beschleunigt

Für Vlad Mykhnenko, den Mitautor der Studie, sind die Ergebnisse eine große Überraschung: „Unsere Studie zeigt, dass während der Pandemie die Abwanderung aus europäischen Städten ebenso plötzlich wie erheblich war und selbst die größten Städte schrumpfen ließ. Dass zwei von drei Städten in Europa schrumpfen – damit hatte ich definitiv nicht gerechnet. Ich nahm an, dass die allgemeine menschliche Bequemlichkeit als auch die hohen Umzugskosten, würden eine massenhafte Abwanderung aus den Städten während der Pandemie verhindern.“

Im Gegensatz dazu hebt die Studie hervor, dass viele der zugrunde liegenden demografischen Prozesse, darunter niedrige Fruchtbarkeit und sinkende Geburtenraten, bereits vorher beobachtet wurden – COVID-19 hat die bestehenden Trends nur beschleunigt.

Manuel Wolff fügt hinzu, dass weitere Forschung nötig sei um zu bestätigen, ob die festgestellten Veränderungen vorübergehend waren oder ob sie ein neue Ära einer demografischen Abwärtsbewegungen im gesamten urbanen Europa ankündigen. „Die Wiederbelebung nach COVID-19 wird in erster Linie der oberen Schicht der städtischen Hierarchie zugute kommen und dazu beitragen, dass die größten Städte, die Kernmetropolen, wieder wachsen und expandieren. Kleinere Städte werden weiterhin unter Sterbeüberschüssen und Abwanderung leiden – COVID-19 hat diese Entwicklung verschärft.“

Zusammenfassend kommt die Studie zu dem Schluss, dass sich der Einfluss der COVID-19 Pandemie zwar auf alle Städte auswirkte, es aber die Erholung nach der Pandemie sein wird, die zu einer zunehmend ungleichmäßigen demografischen Entwicklung der europäischen Städte führen wird.

Publikation

Der Forschungsartikel ist in der Fachzeitschrift Cities erschienen.

“COVID-19 as a game-changer? The impact of the pandemic on urban trajectories”

Cities 2023

https://doi.org/10.1016/j.cities.2022.104162

Der Artikel ist im Open Access auf der Website der Zeitschrift verfügbar.

Pressekontakt

Dr. Manuel Wolff
Geographisches Institut,
Abteilung Landschaftsökologie & Department
Humboldt Universität zu Berlin
Department Stadt- und Umweltsoziologie
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ, Leipzig

Tel.: + 49 - (0)30- 20936803

manuel.wolff@hu-berlin.de

Dr. Vlad Mykhnenko
St. Peter’s College, University of Oxford
Department for Continuing Education
University of Oxford, Oxford, United Kingdom

Tel.: +44 - (0)1865 280767
vlad.mykhnenko@conted.ox.ac.uk