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Warum Menschen selten Standarddeutsch sprechen

Interview mit den Sprachwissenschaftler*innen Anke Lüdeling und Luka Szucsich vom Sonderforschungsbereich „Register“, die die sprachliche Variation des Individuums erforschen
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Anke Lüdeling (mitte), Sprecherin des SFB Register, mit ihren Co-Sprechern
Luka Szucsich (rechts) und Lars Erik Zeige (links). Foto: SFB Register)

Im Frühjahr startet der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2020 geförderte Sonderforschungsbereich (SFB) „Register“ in die zweite Förderperiode. Vier weitere Jahre, von 2024 bis 2028, werden Sprachwissenschaftler*innen das Registerwissen der Menschen in verschiedenen Sprachen erforschen. Dieses Wissen ist Voraussetzung für die Fähigkeit, beim Sprechen verschiedene Register zu ziehen, das heißt, die Art und Weise wie wir sprechen je nach Situation zu variieren. Wie dies geschieht und wie das Phänomen erforscht wird, darüber sprechen die Leiterin des SFB, Prof. Dr. Anke Lüdeling, und ihr Stellvertreter, Prof. Dr. Luka Szucsich.

Wofür steht der Name Register?

Luka Szucsich: Man kennt den Begriff „Register ziehen“ ja vom Orgelspiel. Die Sprachwissenschaft verwendet ihn ähnlich: Ich passe mich einer Situation, meinem Gegenüber und dem Ziel des Gesprächs sprachlich an. Das führt teilweise zu großen Unterschieden bei der Wortwahl. Ich kann sagen: 'Ich ärgere mich' oder: 'Ich bin sauer'. Es zeigen sich aber teils ganz feine Unterschiede auf allen sprachlichen Ebenen, etwa der lautlichen, wenn ich sage: 'Ich mach' statt: 'Ich mache'.

Wie sind Sie auf die Idee dazu gekommen, dieses Registerwissen zu erforschen?

Anke Lüdeling: Mich hat nie der Standard interessiert, die Zeitungssprache oder wunderschön formulierte Sätze mit drei Nebensätzen. Sondern wie Leute in unterschiedlichen Situationen wirklich reden. Es unterscheidet sich maximal, ob ich mit einem kleinen Kind spreche oder eine Vorlesung halte. Mich interessiert, woher man weiß, was in einer Situation sprachlich angemessen ist.

Wie untersuchen Sie das?

Anke Lüdeling: Wir schauen uns ein Phänomen interdisziplinär mit vielen Methoden an - mit linguistischen Theorien, historischen Daten und großen Sprach-Korpora, über die Befragung von Menschen bis hin zu psycholinguistischen Experimenten mit EEG und Eyetracking. Ich selber arbeite mit größeren Mengen sprachlicher Daten, um kleinste Unterschiede zwischen verschiedenen Varietäten zu identifizieren.

Zum Beispiel?

Anke Lüdeling: Wie wir mit Menschen sprechen, die einen offensichtlich fremdsprachlichen Akzent haben.

Haben Sie schon Ergebnisse?

Anke Lüdeling: Unsere Versuchspersonen haben sich mit englischsprachigen Muttersprachler*innen unterhalten, die mit Akzent sprechen und dann mit deutschen Muttersprachler*innen. Es hing von der Stärke des wahrgenommenen Akzents ab, ob sie darauf – beispielsweise durch langsames oder besonders lautes Sprechen - reagierten. Schätzten sie das Gegenüber als sprachlich sehr kompetent ein, reagierten sie fast gar nicht darauf.  

Herr Szucsich, in Ihrem Projekt vergleichen Sie das Russische mit dem Tschechischen, Was interessiert Sie dabei?

Luka Szucsich: Die beiden Sprachen sind eng miteinander verwandt, und wir können vergleichen, in welchen Situationen Muttersprachler welche sprachlichen Mittel, zum Beispiel bestimmte Satzkonstruktionen, verwenden, etwa in besonders formellen wie beim Verfassen eines wissenschaftlichen Artikels im Unterschied zum Gespräch in der Kneipe. Wir untersuchen unter anderem große Textkorpora der beiden Sprachen. Anders als vermutet, kommen verschachtelte Sätze eher in gesprochener als in wissenschaftlicher Sprache vor.

Inwiefern sind diese Register-Forschungen gesellschaftlich relevant?

Anke Lüdeling: Sie sind hoch relevant und brisant. Wir haben im Deutschunterricht gelernt, dass wir ein „Standarddeutsch“ sprechen sollen. Erstens tut das kaum jemand, und zweitens wäre das in vielen Situationen nicht angemessen. Dieser Anspruch führt zu einer merkwürdigen Bewertung, was gutes und was schlechtes Deutsch ist.

Welche Forderung leiten Sie daraus ab?

Anke Lüdeling: Wir sollten nicht „wie gedruckt“, sondern einer Situation angemessen sprechen und kleinste Abstufungen vornehmen können. Das Wissen über verschiedene Register muss ausgebaut werden.

Wie geht das praktisch?

Luka Szucsich: Vieles funktioniert unbewusst. Manche Registerfähigkeiten lassen sich aber auch bewusst erlernen, etwa wie in der Schule oder an der Universität gesprochen wird. Das ist auch sinnvoll, um an bestimmten kommunikativen Zusammenhängen teilhaben, Medien konsumieren und gesellschaftliche Debatten aktiv mitgestalten zu können.

Wie viele Register kann jemand sprachlich denn ziehen?

Anke Lüdeling: Unendlich viele. Da sind sehr feine Abstufungen relevant. Man muss erstens die formelle Situation richtig einschätzen, zweitens die sprachlichen Mittel dafür haben. Erst die Kombination von beidem erlaubt es, das Richtige zu tun. Anders herum erlaubt natürlich jede Situation auf verschiedene Arten zu reagieren.

Was haben Sie in der zweiten Förderphase vor?

Anke Lüdeling: Nachdem wir feinste sprachliche Unterschiede untersucht haben, wollen wir in der zweiten Förderphase deren Funktion verstehen und das Ganze in Theorien umsetzen. Also beispielsweise ein Modell des Spracherwerbs erarbeiten, das Registerkompetenz mit einbezieht.

Das Interview führte: Isabel Fannrich

Weitere Informationen

Zum Weiterhören: Der Podcast des SFB „Registergeknister“