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„Die Rolle der Sozialleistungen für Migration wird überschätzt“

Von welchen Faktoren hängt es ab, in welche Länder Menschen migrieren? Das hat Tim Müller vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) in einer Studie zu 160 Ländern untersucht. Wichtige Pull-Faktoren für Migration sind demnach weniger Sozialleistungen, sondern gute Arbeitsmöglichkeiten, demokratische Verhältnisse und die Landessprache.

Sie haben in Ihrer „Nachwuchsgruppe Migration und Sozialstaat“ die Hypothese untersucht, dass Geflüchtete bevorzugt in Länder mit guten Sozialsystemen migrieren. Warum?

Tim Müller: Das Argument spielt im politisch-öffentlichen Diskurs über Migration – zumeist mit populistischer Intention – seit den 1990er Jahren eine Hauptrolle. Ob die These im Alltag einzelner Menschen von Bedeutung ist, da bin ich mir nicht sicher. In unserer Studie, die sich derzeit noch im Peer-Review-Verfahren befindet, haben wir den Zuzug von Migranten und Migrantinnen allgemein untersucht – nicht den bestimmter Gruppen wie Niedrig- oder Hochgebildete oder die humanitäre Migration bei akuten Krisen.

Inwiefern ist die Frage, ob Sozialleistungen und Zuwanderung miteinander zusammenhängen, bisher erforscht?

Müller: Es gibt zwar einige Arbeiten - allerdings sehr unterschiedliche Befunde. Manche haben Zusammenhänge zwischen Ländern mit guten Sozialsystemen und Migration gefunden, zum Beispiel in den USA. Dort, so eine Studie, ziehen Bundesstaaten, die hohe Sozialleistungen zahlen, mehr Menschen an als jene, wo das nicht der Fall ist. Eine andere häufig zitierte dänische Studie stellte fest: Sobald die Sozialleistungen für Nicht-EU-Migranten drastisch gekürzt wurden, sank die Netto-Zuwanderung stark. Und umgekehrt.

Diese Arbeiten überzeugen Sie nicht?

Müller: Die bisherige Forschung beschränkte sich auf Zuwanderung in EU- oder OECD-Länder, also in wohlhabendere Regionen. Wenn wir Wanderungen in anderen Teilen der Welt außer Acht lassen, bekommen wir ein falsches Bild über die Anziehungsfaktoren von Migration. Unsere Studie untersucht deshalb die Migrationsbewegungen zwischen 160 Ländern.

Wie sind Sie methodisch vorgegangen?

Müller: Wir haben uns die UN-Daten zum sogenannten „migration stock“, also den Bestand von Migranten und Migrantinnen zu einem bestimmten Stichtag angeschaut und die Emigrationsrate berechnet, also den Anteil der Personen, die sich zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Herkunftsländer aufhalten. Wir haben uns auf die globalen Wanderungen ab einer bestimmten Stärke konzentriert und dabei eine Vielzahl von Faktoren analysiert. Wie hoch sind zum Beispiel die Sozialausgaben und das Bruttosozialprodukt im Herkunfts- und im Einwanderungsland? Wie weit sind beide voneinander entfernt, wie scharf die Visa-Regelungen? Wie stark ist die Demokratie? Welche Kriterien machen also die Wanderung zwischen dem Sende- und dem Empfangsland wahrscheinlich?

Was hat sich dabei gezeigt?

Müller: Unsere statistischen Modelle zeigen: Wie viel ein Land für Soziales und auch für Gesundheit ausgibt, reicht nicht, um Migration zu erklären. Wie wir am Beispiel USA feststellen konnten, spielen andere Variablen wie die Wirtschaftsleistung oder die Größe eines Landes, die mit vielen Arbeitsmöglichkeiten verknüpft ist, eine wichtigere Rolle. Auch die Frage, ob ein politisches System demokratisch ist und ob eine ähnliche Sprache gesprochen wird, ist ausschlaggebend. 

Sie verwenden in Ihrer Studie den Begriff des Statuserhalts. Was ist damit gemeint?

Müller: Ich beziehe mich mit dem Begriff Status auf das Niveau der sozialen Absicherung. Wenn ich migriere, will ich mich nicht schlechter stellen als im Herkunftsland. Migration kommt daher häufiger zwischen Ländern mit ähnlich hohen Sozialausgaben vor – zum Beispiel zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern. Ein Großteil der globalen Wanderung findet zwischen wohlhabenden Ländern statt.

Eigentlich stellt man sich das umgekehrt vor: Migration soll der Verbesserung des eigenen Status dienen.

Müller: Migration ist aber mit hohen Kosten verbunden. Menschen migrieren daher am ehesten in Länder, die in der Nähe sind – und in der Masse nicht über weite Distanzen. Die Migration zum Beispiel innerhalb von Afrika oder Asien haben wir hier oft nicht auf dem Schirm. Gleichzeitig ist der Anteil von Menschen, die innerhalb Europas migrieren, viel höher als der Anteil derjenigen, der aus Afrika kommt.

Haben Sie mit diesen Ergebnissen gerechnet?

Müller: Die Studie bestätigt unsere Annahme, dass Sozialleistungen nur in sehr geringem Ausmaß – wenn überhaupt - Menschen dazu bewegen, in ein Land zu ziehen. Für Sozialausgaben finden wir zum Beispiel gar keinen, für Gesundheitsausgaben nur einen sehr geringen Effekt. Das unterscheidet die Debatten in der Forschung und in der Öffentlichkeit. Es kann sein, dass wir diese Effekte statistisch zwar finden, sie sind aber nicht notwendigerweise in der Praxis relevant. Wenn eine Regierung etwa Bezahlkarten einführt, also die Menschen nur noch Sach- anstelle von Geldleistungen bekommen, wird das wahrscheinlich keine Auswirkung haben. Leuten, die migrieren, fehlt das genaue Wissen über die Zielländer. Wissen über die Sozialleistungen besteht  eher nicht.

Inwiefern ist Ihre Forschung gesellschaftlich relevant?

Müller: Wenn eine Regierung die Sozialleistungen kürzt, um Migration zu steuern, wäre das kein adäquates Mittel. Es kann im Gegenteil zu negativen Effekten führen. Als in Dänemark die Sozialausgaben drastisch gekürzt wurden, trieb das Menschen, die dort bereits lebten, in die Armut.

Die Debatte um Migration ist hochaktuell. Wo wollen Sie weiter forschen?

Müller: Wir wollen mit Hilfe der Daten über 160 Länder herausfinden, welche Faktoren dazu führen, dass bestimmte Formen der Migration eher angezogen werden. Was bewirkt zum Beispiel, dass Fachkräfte einwandern? Wir wollen uns aber auch mit verschiedenen Formen legaler Zuwanderung und der Frage beschäftigen, wie Länder Migration erlauben oder erschweren.

Interview: Isabel Fannrich-Lautenschläger

Weitere Informationen

Zum Weiterlesen: Müller, Tim S. (2023): Evidence for the Welfare Magnet Hypothesis? A global examination. BIM Working Paper #2.