Orientierungshilfe für die säkulare Gesellschaft: das Erbe Friedrich Schleiermachers
Die Vorlesungen zur „Christlichen Sittenlehre“ von Friedrich Schleiermacher gehören zu den einflussreichsten Arbeiten des berühmten Theologen des 19. Jahrhunderts. Und trotzdem gibt es bislang keine vollständige Edition davon. Ein neues von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Langzeitvorhaben soll diese Leerstelle füllen. Vier Forschende der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Dr. Sarah Schmidt), der Humboldt-Universität zu Berlin (Prof. Dr. Notger Slenczka), der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Dr. Jörg Dierken) und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Prof. Dr. Arnulf von Scheliha) arbeiten an der ersten vollständigen Gesamtausgabe dieser Vorlesungen. Die DFG fördert das Projekt für maximal zehn Jahre mit bis zu 2,8 Millionen Euro.
Was Immanuel Kant für die Philosophie ist, ist Friedrich Schleiermacher (1768-1834) für die Theologie: in der Theologie, Philosophie, Pädagogik, Soziologie und vielen anderen Disziplinen gehört er zu den einflussreichsten Autoren seiner Zeit. Er knüpfte an die grundlegenden Ideen der Aufklärung an und bezog diese auf die Theologie und andere Kulturgebiete.
Die Relevanz der christlichen Ethik und der damit verbundenen Gesellschaftstheorie für seinen Systemzusammenhang ist bis dato noch wenig beachtet, gleichwohl sind die Texte hochbedeutsam. Schleiermacher entwickelte in ihnen die Idee einer deskriptiven Ethik, die das Verpflichtetsein des Menschen nicht normativ vorgibt, sondern beschreibt. Gleichzeitig entfaltet er in dieser Vorlesung das Programm einer Verbindung von Christentum und Gegenwartskultur. „Fragen nach dem Ort der Religionen beispielsweise und ihrem Beitrag zur Deutung und Gestaltung einer säkularen Gesellschaft werden bereits bei Schleiermacher reflektiert. Seine Denkanstöße haben gerade in der Gegenwart eine hohe orientierende Kraft“, erläutert der Theologe Notger Slenczka, der seitens der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) am Antrag beteiligt ist.
Zeugnis der theologischen Entwicklung
Die christliche Sittenlehre liegt – wie auch seine philosophische Ethik – in Vorlesungsmanuskripten und studentischen Mitschriften vor. Wie viele andere Gelehrte seiner Zeit erzielte auch Schleiermacher einen Großteil seiner Wirkung seine Vorlesungen und nicht über Publikationen. Insgesamt zwölf Mal hielt Schleiermacher diese Vorlesung: Das erste Mal 1806 an der Universität Halle, zuletzt 1831 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, an deren Gründung er maßgeblich mitgewirkt hat. Erhalten sind heute jedoch nur Fragmente: ein Kollegheft, Marginalien, Extra-Zettel, Notizen und weitere Anmerkungen, daneben aber sehr umfangreiche Konvolute von studentischen Mitschriften aus den vielen Semestern, in denen Schleiermacher die Vorlesung gehalten hat.
Schleiermacher selbst konnte seine Pläne zur Veröffentlichung zu Lebzeiten nicht mehr verwirklichen. Eine historisch-kritische Gesamtedition steht noch aus. „Sie ist auch deshalb wichtig, weil sich in den Materialien zu dieser Vorlesung die theologische Entwicklung Schleiermachers über einen Zeitraum von fast 30 Jahren spiegelt“, stellt HU-Professor Slenczka fest.
Hybrid-Edition
Dem umfangreichen und anspruchsvollen Vorhaben einer Gesamtedition widmet sich nun das Team aus Berlin, Halle und Münster im Rahmen des DFG-Langfristvorhabens. Die BBAW besitzt den Nachlass Schleiermachers, in dem sich auch wichtige Manuskripte und Nachschriften zur Vorlesung der „Christlichen Sitte“ befinden, die im Rahmen des Projekts editiert und gleichzeitig digitalisiert werden sollen. Geplant ist, die Vorlesungen dann als sogenannte Hybrid-Edition zur Verfügung zu stellen, also sowohl als frei zugängliche digitale Quellen wie auch als gedruckte Bücher. Digital werden sie auf der von der BBAW betriebenen elektronischen Plattform schleiermacher-digital zu finden sein, auf der bereits Schleiermachers Korrespondenz, seine Tageskalender und weitere Vorlesungen aufgeschaltet sind. Das Editionsprojekt ist eng verzahnt mit Forschungsprojekten und Tagungen an den drei Universitäten, die das Potential der Vorlesung sichtbar machen werden.
Beitrag zur Moderne-tauglichen Theologie
Beantragt wurde das Projekt von Prof. Dr. Jörg Dierken (MLU), Dr. Sarah Schmidt (BBAW), Prof. Dr. Notger Slenczka (HU Berlin) und Prof. Dr. Arnulf von Scheliha (WWU Münster). Von der Edition erhofft sich das Team nicht nur neue Impulse für die Forschung zu Schleiermacher sowie zur Theologie und Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts, sondern einen Beitrag zu einer Moderne-tauglichen Theologie insgesamt. Die vier Projektpartner sind seit Langem etabliert in der Schleiermacher-Forschung: Gemeinsam haben sie bereits an der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers gearbeitet. Halle ist zudem der Sitz der Internationalen Schleiermachergesellschaft, in der sich die Partner engagieren.
Im Langfristprogramm der DFG werden ausschließlich Vorhaben aus den Geistes- und Sozialwissenschaften gefördert, die von besonderer Bedeutung für das jeweilige Wissenschaftsgebiet sind und Ergebnisse versprechen, die eine bis zu zwölfjährige Förderzusage rechtfertigen – so etwa Grabungsprojekte oder Vorhaben, die neues Grundlagenmaterial für die weitere Forschung erschließen.
Weitere Informationen
Friedrich Schleiermacher als Rektor der Berliner Universität 1815/16
Kontakt
Prof. Dr. Notger Slenczka
Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie Dogmatik
Theologische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin