„Soziale Diversität ist an Berliner Schulen nur schwer herstellbar“
Herr Vief, was bedeutet Segregation und was hat das mit Chancengerechtigkeit an Schulen zu tun?
Robert Vief: Forschung zu Segregation bedeutet, dass die ungleiche Verteilung von verschiedenen Gruppen in den Blick genommen wird. Zum Beispiel in Bezug auf räumliche Einheiten wie Nachbarschaften, Bezirke oder Städte – theoretisch kann jedes messbare Merkmal betrachtet werden. In der Stadtforschung interessieren sich Forscher:innen aber eher für soziale Merkmale wie die Höhe des Einkommens, Armutsquoten oder den Migrationshintergrund der Bewohner:innen. Wenn in Berlin keine Segregation herrschen würde, dann lebten Kinder aus ärmeren Familien gleichmäßig verteilt in allen Nachbarschaften der Stadt. Konzentrieren sie sich dagegen in einem kleinen Teil von Berlin, sprechen wir von extrem hoher Segregation.
An den Schulen ist aus sozioökonomischer Sicht eine möglichst gleiche Verteilung von Schüler:innen aus unterschiedlichen sozioökonomischen Schichten wichtig. Gerade Kinder aus armen Familien erzielen bessere Schulleistungen, wenn sie auch von privilegierten Schüler:innen umgeben sind – auch wenn diese Durchmischung zunächst Lehrkräfte, Schüler:innen und Eltern stärker herausfordert.
In Ihrer Dissertation untersuchen sie am Beispiel von Berlin, wie sich Schulen verändern, wenn sich die soziale Zusammensetzung der Nachbarschaft wandelt. Sie haben dafür viele Daten zur Situation und sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft an den 375 öffentlichen und 61 privaten Grundschulen in Berlin zusammengeführt und analysiert. Wie sieht es in den Berliner Bezirken aus?
Vief: Die Daten zeigen: Schulen in Berlin sind deutlich stärker segregiert als die sie umgebende Nachbarschaft. Und das sieht man heute stärker als noch vor zehn Jahren, vor allem auf der sozioökonomischen Ebene, also beim Einkommen der Eltern. In Ortsteilen wie (Nord-)Neukölln, Teilen von Kreuzberg oder auch Wedding und Gesundbrunnen, die starke Mietpreissteigerungen und Gentrifizierung erlebt haben, gibt es zwar heute unter den Bewohner:innen eine stärkere Durchmischung als noch vor zehn Jahren, aber die spiegelt sich an den Grundschulen nicht wider. Die Schulen sind lange nicht so durchmischt, wie man das erwarten würde.
Warum ist das so?
Vief: Um diese Frage zu beantworten, schaue ich mir die Einzugsgebiete an, die die Berliner Senatsverwaltung bestimmt und die festlegen, dass Kinder die Grundschule besuchen, die dem Wohnort räumlich am nächsten liegt. Würden sich alle Eltern daran halten, sähen Schulen genauso aus wie die Nachbarschaften. Aber Eltern umgehen diese Vorgabe. Einerseits mit Hilfe sozialer Unterstützungsnetzwerke und mit dem Wissen darüber, wie man Umschulungsanträge erfolgreich einreicht, oder im Notfall einklagt. Neben diesem kulturellen und sozialen Kapital spielen auch finanzielle Mittel eine Rolle, wenn Eltern zum Beispiel staatliche Schulen durch die Wahl einer Privatschule umgehen, die keinem Einzugsgebiet folgen. Die Zahl der Privatschulen hat in den letzten zehn Jahren stark zugenommen und die Schülerschaft dort ist wesentlich privilegierter und homogener als die an öffentlichen Schulen. Darüber hinaus gibt es illegale Wege die Zuweisung zu einer Grundschule zu umgehen – etwa durch Ummeldung des Wohnorts eines Kindes zu einer Adresse von Verwandten oder Freunden.
Inwiefern ist es ein Problem, wenn Schulen nicht mehr so stark sozial durchmischt sind?
Vief: Zunächst, wie bereits beschrieben, da es für das gesamte Bildungssystem mehr Leistungszugewinne gäbe, wären die Schulen weniger segregiert. Aber es gibt auch noch wichtige Argumente, die nicht direkt mit den Noten der Schüler:innen zu tun haben. Es wichtig ist, dass sich an den Schulen Schüler:innen mit verschiedenen Lebenshintergründen begegnen. Geschieht das nicht, besteht die Gefahr, dass sich Menschen ständig in „Blasen“ bewegen, wo nur homogene Gruppen zusammenkommen. Wenn Menschen mit verschiedenen Lebenshintergründen in der Schule aufeinandertreffen, ist man als Schüler:in vielleicht erst mal irritiert, aber man lernt dann, dass es in anderen Familien anders läuft als zu Hause. Dadurch macht man sich automatisch Gedanken darüber, warum das so ist, und kann Verständnis entwickeln. Haben Schüler:innen diese Gelegenheit nicht, entsteht einerseits weniger Toleranz, aber auch weniger Chancengleichheit.
Wie steht Berlin im Vergleich mit anderen Großstädten da?
Vief: Im Vergleich zu Städten in den USA oder in den Ländern Südamerikas ist Berlin heute keine extrem segregierte Stadt. Und das sollten wir unbedingt erhalten. Denn das ist die beste Grundlage für sozial durchmischte Schulen. Aber in Berlin gibt es Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt, die zu mehr Schulsegregation führen. Für junge Familien wird es immer schwieriger umzuziehen, da es kaum noch bezahlbare Mietangebote gibt. In der Folge umgehen sie häufiger die Einzugsgebietsschule. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass sich die ärmeren Familien wieder verstärkt in bestimmten Gebieten konzentrieren, wenn die aktuelle Preisentwicklung so weitergeht. Die Bildungsverwaltung sollte sich überlegen, wie sie die soziale Zusammensetzung an den Grundschulen aktiver steuern könnte, als dies aktuell über die Einzugsgebiete der Fall ist – um zumindest den Anstieg der Schulsegregation aufzuhalten. Und auch die Wohnungspolitik sollte mehr auf Familien und vor allem auf ärmere Familien schauen.
Zum Weiterlesen:
Gastbeitrag von Robert Vief im Tagesspiegel mit Infografiken zu seinen Forschungsergebnissen
Die Fragen stellte Kristina Vaillant.