„Diese Geschichten müssen aufgeschrieben werden“
PD Dr. Magdalena Waligórska, Foto: Falk Weiß
Frau Waligórska, Sie haben für Ihr Forschungsprojekt „PLUNDERED LIVES“ erfolgreich einen ERC Consolidator Grant eingeworben. Um was wird es in diesem Projekt gehen?
PD Dr. Magdalena Waligórska: In meinem Projekt geht es um die Enteignung jüdischer Menschen während des Holocausts in Polen und Belarus. In der Fachliteratur zu Enteignung gab es bisher viel Augenmerk darauf, was mit jüdischen Unternehmen, Bankkonten, Gold, Kunst und ähnlichen Dingen von hohem materiellen Wert passiert ist. Aber die Geschichte von Alltagsgegenständen wie Kleidung, Geschirr oder Tischtüchern wurde bisher kaum berücksichtigt. Zum Teil natürlich, weil solche Gegenstände einen niedrigen ökonomischen Wert hatten. Sie hatten jedoch einen hohen emotionalen Wert für die Menschen, die sie verloren haben, und gerade persönliche Gegenstände haben oft eine sehr bewegte Geschichte hinter sich: Sie wurden gestohlen, geplündert, in Besitz genommen oder gegen Essen getauscht. Auch kleine Dinge konnten überlebungswichtig sein. Wem die Kleidung gestohlen wurde, konnte sich nur schwer in ein Versteck retten. Ich möchte die Geschichte des großen Raubzugs kleiner Dinge rekonstruieren und mir näher anschauen, was mit den gestohlenen Dingen dann geschehen ist.
Warum konzentrieren Sie sich auf Polen und Belarus?
Waligórska: Es ist dieser Teil Europas, wo Enteignung während des Holocaust ein Massenphänomen war. In sogenannten „Schtetls“ – kleinen Ortschaften, in denen der Anteil der jüdischen Bevölkerung vor dem zweiten Weltkrieg hoch war, spielte sich die Enteignung der Juden durch die deutschen Besatzer und die nichtjüdische Bevölkerung sowohl in einem sehr brutalen als auch sehr intimen Kontext ab. Auf dem Territorium Ostpolens und des heutigen Belarus kam es zum sogenannten „Holocaust by bullets“. Das heißt, dass örtliche Juden meist in Massenerschießungen umgebracht wurden, die nicht irgendwo weit abseits stattfanden, sondern sehr nah an den Ortschaften, an ihren Rändern oder in nahen Wäldern. Die nichtjüdischen Nachbarn konnten das Morden aus der Nähe erleben und waren auch oft darin involviert. Der größte Teil der Habseligkeiten der ermordeten Menschen blieb auch vor Ort. Es kam zu Massenplünderungen der leeren jüdischen Häuser, in denen Menschen den Besitz oder die Kleidung ihrer Bekannten und Nachbarn an sich nahmen. Diese Nähe fasziniert mich.
Wie muss man sich diese Plünderungen vorstellen?
Waligórska: Die nichtjüdische Bevölkerung bekam die Ermordungen nicht nur mit, sondern half auch – etwa beim Transport der Opfer zum Erschießungsort oder beim Begraben der Leichen. Zum Teil wurden sie dafür auch mit der Kleidung der Ermordeten bezahlt. Eine Geschichte aus dieser Zeit und dieser Region, die ich im Vorfeld recherchiert habe, hat mich sehr berührt und gab den Anstoß zu diesem Projekt: Apoloniusz Puźniak aus Józefów – einer Kleinstadt in Südostpolen – war neun Jahre alt, als das Polizeibataillon 101 aus Hamburg im Juli 1942 eine Massenerschießung von Juden durchführte. Zusammen mit einer Gruppe Männer und Jugendlicher wurde er danach gezwungen, die Leichen zu begraben. 1.500 Menschen wurden erschossen, was rund 80 Prozent der gesamten Bevölkerung der Stadt ausmachte. Er erzählte, dass die Totengräber mehrere Tage dafür brauchten, die Leichen im Wald mit Erde zu bedecken. Was Apoloniusz aber am meisten schockiert hat, war der Anblick, der ihn am zweiten Tag im Wald begegnete. Am Tag der Erschießung waren die Ermordeten vollständig bekleidet gewesen, aber am nächsten Morgen seien alle Leichen nackt gewesen. Die Menschen aus den umliegenden Dörfern hatten nachts Kleidung und Schuhe geplündert. Die Frage, was mit diesen 1.500 Paar Schuhen und tausenden Kleidungsstücken passiert ist, hat mich nicht mehr losgelassen. Sie wurden weiterverwendet und genutzt. Wenn man diese Zahlen betrachtet, wird schnell klar, dass solche Kleidung in fast jeden Haushalt der Ortschaft gelangt sein dürfte. In meinem Projekt möchte ich verstehen, wie das passiert ist.
Wie untersuchen Sie Ihre Fragestellungen? Das ist aus gleich mehreren Gründen sicherlich sehr schwierig.
Waligórska: Wir wollen acht Kleinstädte in Polen und Belarus genauer untersuchen. Der wichtigste Teil meiner Arbeit wir es sein, in die Orte zu fahren, dort Zeit zu verbringen und mit den Menschen zu reden. Natürlich gibt es nur noch wenige Zeitzeugen, aber einige können sich an Erlebnisse aus ihrer Kindheit erinnern. Die Nachfahren aus der zweiten oder dritten Generation können ebenfalls Informationen liefern – etwa über jüdische Haushaltsgegenstände, die im Besitz ihrer Eltern oder Großeltern waren. Diese müssen nicht immer geplündert worden sein. Manchmal wurden die Gegenstände auch gegen andere Wertsachen getauscht oder in Obhut genommen, weil die Nachbarn sich verstecken mussten. Natürlich ist die Frage, ob man etwas Jüdisches im Haus hat, sehr schwierig. Wenn Menschen überhaupt dazu bereit sind, über Raub zu sprechen, sprechen sie nicht über sich und ihre Familien – sondern über Nachbarn oder Bekannte. Wir versuchen, in unseren Gesprächen sehr behutsam vorzugehen und sehr vorsichtig nachzufragen. Dafür braucht es Zeit und Geduld. Ein guter Startpunkt für eine Recherche ist der Markt, auf dem sich viele Menschen treffen, ältere Leute oft auf Bänken sitzen und miteinander reden. Deshalb werden wir unsere Forschungsreisen vor allem im Sommer vornehmen, wenn viele Leute draußen sind. So sammeln wir nach und nach Hinweise, die uns dann von Tür zu Tür weiterführen und Einsichten in viele persönliche Geschichten ermöglichen. Eine wichtige Informationsquelle sind für uns auch juristische Dokumente aus Gerichtsverhandlungen und Zeitzeugenberichte jüdischer Überlebender, die wir in Archiven finden. Viele berichten etwa davon, dass sie nach dem Krieg in ihre Heimatorte zurückkehrten und dort Menschen sahen, die ihre Sachen trugen.
Was wird die größte Herausforderung in diesem Projekt für Sie sein?
Waligórska: Der Zugang zu den Menschen. Es ist nicht leicht, über all das zu sprechen. Manchmal macht ein ganzer Ort auch einfach „dicht“, wenn es die Runde macht, dass Forscher vor Ort sind und unbequeme Fragen gestellt werden. Dann werden Türen nicht mehr geöffnet und die Menschen sprechen nicht mehr mit uns. Dieses Phänomen kennen viele Forschende aus der Anthropologie. Besonders, wenn es um unangenehme Fragen wie Antisemitismus geht.
Was wird mit Ihren Ergebnissen und Erkenntnissen geschehen?
Waligórska: Im Projekt werden mehrere Bücher entstehen. Ich selbst plane ein Buch über entwendete jüdische Kleidung zu schreiben. Kleidung ist ein besonders faszinierendes Objekt für mich. Sie hat direkten Kontakt mit dem Körper und ist ein sehr intimer Gegenstand. Viele dieser Kleidungsstücke jüdischer Opfer müssen forensische Spuren der Ermordung getragen haben: etwa Einschusslöcher und Blutspuren. Für uns heute ist es unverständlich, wie Menschen dazu in der Lage waren, solche Kleidungsstücke zu stehlen und dann selbst zu tragen. Für mich ist das ein absolutes Tabu und unvorstellbar. Gleichzeitig möchte ich verstehen, wie und warum genau das möglich war. Welche historischen, ökonomischen oder psychologischen Gründe gab es dafür? Wie fühlten sich die Menschen dabei?
Das Forschungsthema ist sehr bewegend und auch für Sie psychisch bestimmt nicht einfach. Wie gehen Sie damit um?
Waligórska: Es ist in der Tat manchmal emotional schwierig, damit umzugehen. Wir versuchen in Teams, mindestens aber paarweise zusammenzuarbeiten, um immer jemanden zu haben, mit dem man sich während der Feldforschung austauschen kann – auch über unseren Schmerz, unseren Frust und unsere Wut. Aber ich glaube fest daran, dass diese Geschichten aufgeschrieben werden müssen, dass sie wichtig sind. Das gibt mir die Kraft, mich mit diesem Horror auseinanderzusetzen. Dank des ERC Grants kann ich ein Team mit drei Postdocs einstellen. Dafür bin ich sehr dankbar. Teil des Teams wird auch ein Psychologe sein, was uns noch einmal eine ganz andere Perspektive auf das Phänomen ermöglichen wird.
Interview: Heike Kampe