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„Ein öffentliches Gedenken an die Opfer ist nicht möglich“

Interview mit Dr. Daniel Fuchs über das Tiananmen-Massaker am 4. Juni 1989 und inwiefern das Gedenken daran heute in China thematisiert wird

Hunderttausende Chinesen protestierten im Frühjahr 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking für politische Reformen und eine größere Freiheit in China. Die friedlichen Proteste wurden am 4. Juni 1989 vom chinesischen Militär gewaltsam niedergeschlagen. Zum Jahrestag haben wir uns mit Dr. Daniel Fuchs vom Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität unterhalten. Im Interview berichtet er, was der Auslöser der Proteste war und inwiefern es eine Erinnerungskultur an das Tiananmen-Massaker in China gibt.

Die mediale Wahrnehmung rund um das Tiananmen-Massaker in Beijing am 4. Juni 1989 ist sehr auf den studentischen Protest verkürzt. Was wollte die Protestbewegung – und wer war daran beteiligt?

Dr. Daniel Fuchs: In der westlichen Medienberichterstattung war tatsächlich von Beginn an die Darstellung vorherrschend, dass es sich bei den Protesten um eine studentische Demokratiebewegung gehandelt hat. Diese Interpretation ist nach wie vor wirkmächtig, deckt sich aber nicht mit dem Stand der Forschung.

Was sind die neueren Erkenntnisse?

Fuchs: Die Proteste im Frühjahr und Frühsommer 1989 waren keineswegs auf Studierende begrenzt. Diese haben zwar im April auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Protestaktionen gestartet und auch danach in der Außenwahrnehmung dominiert. Es beteiligten sich jedoch zunehmend Teile der urbanen chinesischen Mittelklasse und bemerkenswert große Teile der Arbeiterschaft, die damals noch in staatlichen Unternehmen tätig waren. Sie solidarisierten sich mit den Studierenden, stellten aber auch eigene Forderungen und gründeten – ein in der Geschichte der Volksrepublik einmaliges Ereignis – unabhängige Gewerkschaften.

Die Proteste begannen ja auch nicht erst im Frühjahr 1989.

Fuchs: Korrekt. Proteste in größerem Umfang ereigneten sich bereits ab Mitte der 1980er Jahre, als die zunächst erfolgreichen Wirtschaftsreformen ins Stocken gerieten, die durch das duale Preissystem zunehmende Korruption sichtbar wurde und die Inflation rasant anwuchs. Teile der chinesischen Gesellschaft forderten deshalb etwa eine Preisstabilisierung und das Offenlegen von Einkommen staatlicher Beamter. 1986/87 demonstrierten und streikten außer Studierenden auch Arbeiter und Arbeiterinnen in vielen Teilen des Landes. Insofern stellte die Protestbewegung von 1989 den Höhepunkt eines bereits seit Jahren wachsenden Unmuts dar. Einer der bekanntesten chinesischen Intellektuellen, Wang Hui, spricht daher auch von einer sozialen Bewegung – und nicht von einer studentischen Demokratiebewegung –, die auf die negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Reformen reagierte.

Was führte zu der Eskalation 1989?

Fuchs: Der unmittelbare Auslöser für die Proteste von 1989 war der Tod des früheren Parteivorsitzenden Hu Yaobang. Er war im Januar 1987 unter dem Vorwurf entmachtet worden, er habe zu weich auf die vorangegangenen Proteste reagiert. Studierende in Beijing nahmen die Nachricht über seinen Tod als Anlass für eine Kundgebung auf dem Tiananmen-Platz.

Letztlich müssen doch auch Gorbatschows Politik und die Demokratiebewegungen in anderen osteuropäischen Ländern die Lage in China beeinflusst haben.

Fuchs: Definitiv. Es gibt auch interessante Forschung dazu, dass die polnische Solidarnosc-Bewegung eine nicht zu unterschätzende Auswirkung darauf hatte, wie Teile der chinesischen Arbeiterschaft in den 1980er Jahren etwa über Mitbestimmung und soziale Ungleichheit nachdachten. Der erwähnte Wang Hui geht daher in seiner Bewertung der Ereignisse von 1989 noch einen Schritt weiter, denn er sieht in den chinesischen Protesten bereits so etwas wie den Beginn der internationalen globalisierungskritischen Bewegung der 1990er Jahre. Unabhängig davon, ob man diese Sichtweise teilt: Erst die Beteiligung unterschiedlicher sozialer Gruppen macht die große Sprengkraft verständlich, die in den Protesten lag. Dass sie unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft und unterschiedlich gelagerte Forderungen umfassten, machte es für den Staat schwierig, mit bestimmten Zugeständnissen darauf zu reagieren.

Ausgerechnet der Reformer Gorbatschow war im April '89 in Peking und sollte auf dem Tiananmen-Platz empfangen werden...

Fuchs: ...was dazu führte, dass die internationalen Medien ihre Aufmerksamkeit bereits auf Peking gerichtet hatten. Übrigens haben sie sich auf den Platz des Himmlischen Friedens als zentralen Ort der Protestbewegung konzentriert. Tatsächlich aber protestierten Menschen in mehr als 60 anderen Städten in unterschiedlichen Landesteilen. Dadurch entwickelte es sich zur bis dato größten Legitimationskrise der Partei- und Staatsführung seit Beginn des wirtschaftlichen Reformprozesses Ende der 1970er Jahre.

Womit erklärt sich die bis heute verkürzte Wahrnehmung?

Fuchs: Zum einen lässt es sich im damaligen Kontext durch die Auflösung der sozialistischen Staatenwelt erklären. Kurz nach dem Tiananmen-Massaker verkündete Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, die Sowjetunion fiel wenige Jahre später auseinander. Zum anderen gibt es eine gewisse Kontinuität darin, wie westliche Medien lokale oder regionale Proteste in China interpretieren, und zwar häufig als direkte Kritik an der politischen Führung in Beijing. Es ist aber so, dass sich soziale Proteste in China in erster Linie an die unmittelbar Verantwortlichen, im Falle von Arbeiterprotesten etwa an Unternehmen und lokale Regierungen, richtet. Die Menschen versuchen, die chinesische Zentralregierung zu erreichen, damit diese schlichtend und klärend eingreift. Sie stellen also in der Regel nicht die Führung in Beijing in Frage – und schützen sich damit auch vor harter Repression.

Bis heute lässt sich nicht sagen, wie viele Tote und Verletzte es im Juni 1989 gegeben hat.

Fuchs: Die Schätzungen reichen von einigen Hundert bis zu mehreren Tausenden. Das chinesische Rote Kreuz hat unmittelbar nach den Ereignissen die Zahl von 2600 Toten genannt, dies aber später widerrufen. Auch wenn man die genaue Zahl der Todesopfer bis heute nicht mit Sicherheit weiß: Sie hatte ein dramatisches Ausmaß.

Inwiefern wird das Massaker in China thematisiert?

Fuchs: Ein öffentliches Gedenken an die Opfer ist nicht möglich. Die Bewegung von 1989 ist weitgehend tabuisiert, Versuche des öffentlich-kollektiven Erinnerns werden zensiert. Die Bezugnahme auf die blutige Niederschlagung der Proteste vor 34 Jahren stellt bis heute eine unverrückbare rote Linie dar, die nicht überschritten werden darf. In Hongkong fanden bis vor wenigen Jahren am 4. Juni noch große Gedenkkundgeben statt, doch auch diese sind mittlerweile untersagt. Im privaten Raum werden die Ereignisse jedoch hin und wieder angesprochen, vor allem von Älteren im urbanen Raum, die die Ereignisse bewusst miterlebt haben. Aber auch Jüngere, die wissen, wie man die Zensur übergeht und im Internet an Informationen im Ausland gelangt, sprechen darüber.

Wie ist die offizielle Lesart?

Fuchs: Die Staats- und Parteiführung spricht von einem Zwischenfall. Unmittelbar nach dem 4. Juni wurde das Narrativ eines konterrevolutionären Aufruhrs geprägt. Diese Formel gilt bis heute, zum Beispiel auch im Schulunterricht. Die Polizei ist um den 4. Juni herum in großen Städten, aber auch auf den Universitäts-Campi besonders präsent.

Versuchen Menschen, das im Internet zu umgehen?

Fuchs: Eine direkte Bezugnahme wird in China von der Zensur direkt unterbunden. Online gibt es allerdings einen sehr kreativen oder symbolträchtigen Umgang damit. Um eines der bekannteren Beispiele zu nennen: Das Bild einer Flasche Wein mit einem Etikett wurde gepostet, auf dem eine 8 und eine 9 steht – also der Verweis auf das Jahr '89. Menschen versuchen auch, durch unkommentierte Symbole wie eine Kerze, an das Massaker zu erinnern. Es ist stets ein Katz- und Mausspiel zwischen ihnen und den Zensurbehörden, welche die Online-Suche nach entsprechenden Begriffen und Zahlen im Zusammenhang mit dem Datum unterbinden.

Sind ähnliche Proteste wie 1989 denkbar?

Fuchs: Ich halte eine ähnliche Bewegung auf absehbare Zeit für unwahrscheinlich. Seit 1989 hat es – nicht zuletzt aufgrund der Repression - kaum klassenübergreifende Proteste gegeben. Zudem bestand 1989 eine ganz bestimmte Gelegenheitsstruktur für die Entstehung und Genese der Bewegung, da es in der Parteiführung einen Machtkampf um die weitere Ausrichtung der Reformpolitik und Uneinigkeit über den Umgang mit den Demonstrierenden gab. Im Moment deutet wenig darauf hin, dass die Führungsposition von Xi Jinping in der Kritik steht. Dennoch gibt es Entwicklungen, die man nicht unterschätzen sollte: Im April 2023 ist etwa die Jugendarbeitslosigkeit in China erstmals über 20 Prozent gestiegen. Viele Universitäts-Absolventen und -Absolventinnen finden keinen Job oder müssen für niedrige Löhne bei Lieferdiensten arbeiten. Da ist wachsender Unmut zu spüren – eine Herausforderung für die chinesische Parteiführung.

Welche Bedeutung hat es, wenn im Ausland an das Massaker erinnert wird? Inwiefern kommt das in China an?

Fuchs: Es kommt bei jenen Menschen an, die sich ohnehin bereits damit auseinandersetzen, was '89 geschehen ist. Oder bei jenen, die unmittelbar von der Repression betroffen waren, also über Jahre hinweg im Polizeigewahrsam waren und jetzt immer noch in China leben. Man kommt über die Umgehung der Great Firewall im Internet an Informationen aus dem Ausland heran. Insofern ist es für Menschen in China nicht unbedeutend, dass es weiterhin Gedenkkundgebungen in unterschiedlichen Teilen der Welt gibt.

Das Interview führte Isabel Fannrich-Lautenschläger.