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Geraubte Bücher

Die Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität forscht zur Provenienz unrechtmäßiger Bucherwerbungen während der Zeit des Nationalsozialismus
Alternativtext

Die soziale Botschaft des Papstes“, Wien 1931 mit Widmung an
Hildegard Burjan. Foto: Yong-Mi Rauch

Der Raub und die Zerstörung von Kulturgut ist ein eigenes Kapitel der verheerenden Auswirkungen des nationalsozialistischen Regimes. In Deutschland und in den besetzen Gebieten wurde das Eigentum von Privatpersonen und Institutionen in großem Stil beschlagnahmt und neu verteilt. Ein beträchtlicher Teil dieses Raubguts befindet sich, nicht selten unerkannt, bis heute in öffentlichen Einrichtungen, Museen und Bibliotheken.

Die Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) untersucht seit 2022 in einem großangelegten Projekt sämtliche Erwerbungszugänge zwischen 1933 und 1945, die sich in der früheren „Zentralen Universitätsbibliothek“ befanden. Insgesamt erhielt die Universitätsbibliothek in diesem Zeitraum 63.000 Zugänge, die in den komplett erhaltenen Akzessionsjournalen (Zugangsbüchern) verzeichnet sind.

Indizien für unrechtmäßig erworbene Bücher sind beispielsweise verdächtige Lieferanten wie das Auswärtige Amt, das in den besetzten Gebieten geraubte Bücher weitergab, oder Antiquariate, die mit Raubgut handelten. Häufig erhielt die Bibliothek Raubgut als „Geschenk“ oder „Tausch“. Die verdächtigen Bücher werden in der Universitätsbibliothek herausgesucht und auf Hinweise zu ihrem Vorbesitz gesichtet: Gibt es Namenseinträge, Widmungen, Stempel oder Exlibris? Insgesamt geht es um mindestens 13.500 Zugänge, die überprüft werden.

Buchgeschichten rekonstruieren und Eigentum zurückgeben

Ziel des Projektes ist es, die Vorgeschichten geraubter Bücher zu rekonstruieren, rechtmäßige Anspruchsberechtigte zu ermitteln und Bücher zurückzugeben oder die Vorgänge zumindest zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Bei Büchern handelt es sich, anders als bei Kunstwerken, nur selten um hohe Vermögenswerte. Als Gegenstände des Alltags machen sie jedoch das Schicksal greifbar, das die Menschen und Institutionen erfahren haben, denen sie einmal gehört haben.

Mutmaßlich stammen einige der 100 Titel, welche die Universitätsbibliothek 1942 von der Deutschen Bücherei in Leipzig erhielt, aus der Bücherverwertungsstelle Wien, einem Raubgutdepot, das 1938 nach der Annexion Österreichs eingerichtet wurde. Die Vermutung bestätigte sich mit dem Fund einer Widmung an die österreichische Sozialpolitikerin Hildegard Burjan in einem der Bände.

Überraschend viele der Bücher, die zwischen 1933 und 1945 in der Bibliothek eingearbeitet wurden, sind heute noch erhalten. Über 500 Bände wurden bereits als Raubgut eingestuft. Das klingt zunächst überschaubar, doch darf man nicht vergessen, dass bei vielen Büchern die Suche schlichtweg eingestellt werden muss, weil sie keinerlei Besitzmerkmale enthalten und in Archiven weitere Hinweise fehlen.

Hildegard Burjan entstammte einer jüdischen Familie. 1938 war sie bereits verstorben. Nach der Annexion rettete sich ihr Ehemann, Alexander Burjan, vor der Verfolgung durch das NS-Regime nach Brasilien. Seine Villa einschließlich des Inventars wurde vom Deutschen Reich eingezogen. Da in Leipzig schon ein weiteres Buch mit der Provenienz Burjan identifiziert und die Ermittlung von Erbenden begonnen wurde, wird sich die Humboldt-Universität gegebenenfalls dem Restitutionsverfahren anschließen. Dieser Fall zeigt, wie Institutionen bei Provenienzermittlung und Restitutionen kooperieren können.

Die Akzessionsjournale offenbaren, dass mitunter die Verfolgten selbst ihren Besitz an die Universitätsbibliothek gaben. Heinrich Poll, der 1922 auf die erste deutsche Professur für Genetik an die Berliner Universität berufen worden war, verlor seine Stellung aufgrund seiner jüdischen Herkunft. 1934 schenkte er der Universitätsbibliothek sechs historische Vorlesungsmitschriften. Erst im Frühjahr 1939 konnte Poll nach Schweden ausreisen. Einige Tage nach seiner Ankunft im Exil erlitt er einen Herzinfarkt, seine Frau Clara nahm sich wenig später das Leben.

Das Buchgeschenk einer Bibliotheksmitarbeiterin als Lebensspur

Auch Mitarbeitende der Bibliothek erhalten bei den Provenienzrecherchen ein Gesicht. Als das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ 1933 in Kraft trat, verloren einige unter ihnen ihre Stelle. Zu ihnen gehört der jüdischstämmige Orientalist und spätere Direktor der Stadtbibliothek Tel Aviv Heinrich Eljakim Loewe. Eine bislang Unbekannte ist die Bibliotheksinspektorin Margarete Abraham. Sie emigrierte im September 1939 nach Dänemark. 1940 und 1941 sind zwei Schenkungen mit der Lieferantenangabe „Frl. Abraham Berlin“ im Akzessionsjournal erfasst. Die kurze Angabe spricht dafür, dass die Lieferantin in der Bibliothek bekannt war. Doch vermutlich hatte Margarete Abraham damals Berlin schon verlassen. Hatte sie die Bücher zuvor in der Bibliothek hinterlegt? Oder übergab ein anderes Fräulein Abraham die Bücher, vielleicht ihre Schwester, mit der zusammen sie am Kaiserdamm in Berlin-Charlottenburg gewohnt hatte?  

Wie Margarete Abraham die folgenden Jahre verbrachte, ob sie sich unter der deutschen Besatzung nach Schweden rettete oder durch Heirat mit einem Dänen geschützt war, ist nicht bekannt. Nach Kriegsende arbeitete sie in der Bibliothek des Nationalmuseums in Kopenhagen. 1950 meldete sie mit dem Doppelnamen Margarete Abraham-Nielsen von Bornholm aus bei der Humboldt-Universität Pensionsansprüche an. Trotz der Bemühungen des damaligen Bibliotheksdirektors gelang es nicht, ihren Anspruch durchzusetzen. Um eine Rente zu erhalten, hätte sie ihren Wohnsitz in die DDR verlegen müssen.

Das Projekt zur Provenienzforschung wird vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste bis zum 15. Juni 2024 gefördert. Damit enden die Arbeiten jedoch nicht: Dank weiterer Fördermittel werden sich detaillierte Recherchen zu einzelnen Objekten anschließen. Der Forschungsbedarf ist weiterhin immens: Erstens waren auch die vielen Seminarbibliotheken ein Teil des organisierten Raubs und harren der Aufarbeitung, zweitens endet die Provenienzgeschichte nicht mit dem Zweiten Weltkrieg. Noch lange nach 1945 wurden in der NS-Zeit geraubte Bücher über zentrale Stellen weiterverteilt.

Autorinnen: Cornelia Briel, Yong-Mi Rauch

 

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Kontakt

Dr. Yong-Mi Rauch

Abteilung Historische Sammlungen

Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin

E-Mail: yong-mi.rauch@ub.hu-berlin.de

 

Weitere Informationen

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Akzessionsjournale der Universitätsbibliothek