Presseportal

„Wir ignorieren die Folgen unseres Lebensstils“

Der Bundesverfassungsschutz hatte angesichts steigender Energiepreise und Lebenshaltungskosten vor einem „Wutwinter“ gewarnt. Stattdessen blieb es erstaunlich ruhig in Deutschland. Warum die Ruhe trotzdem einen hohen Preis hat und warum wir trotz Energiekrise und Inflation die Dauerkrise Klimawandel nicht aus den Augen verlieren sollten, erklärt Professor Jörg Niewöhner im Interview.

Prof. Dr. Jörg Niewöhner ist Professor für Mensch-Umwelt-Beziehungen am Institut für Europäische Ethnologie. Von 2013 bis 2018 hat er das Integrative Research Institute on Transformations of Human-Environment Systems (IRI THESys) als Co-Direktor und weitere fünf Jahre als Direktor mitgeprägt.

Herr Professor Niewöhner, in der kommenden KOSMOS-Lesung geht es um vielfältige aktuelle Krisen und um den bröckelnden sozialen Zusammenhalt. Was genau erwartet die Zuhörer:innen?

Im vergangenen Herbst wurden wir alle durch einen Hinweis des Bundesverfassungsschutzes aufgeschreckt. Es hieß, es könne wegen der Nachwirkungen der Corona-Pandemie, steigender Energiepreise, hoher Inflation und anderer Auswirkungen des russischen Angriffskrieges zu einem „Wutwinter“ mit großen sozialen Unruhen kommen. Diese Situation an sich ist aus anthropologischer Sicht schon sehr spannend. Dabei taucht aber noch eine zweite Frage auf: Wenn diese sehr drängenden und aktuellen Probleme im Vordergrund stehen – was passiert dann eigentlich mit der Dauerkrise Klimawandel? Wird sie in den Hintergrund gedrängt? Das möchte ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen vom IRI THESys aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten.

Sie haben für diese Lesung ein besonderes Format gewählt. Erklären Sie kurz, was Sie vorhaben?

Es geht um gesellschaftliche Spannungen und Differenzen. Wie können wir Konflikte darstellen und greifbar machen? Das kann nur mit einem mehrstimmigen Format gelingen. Es wird einen klassischen Vortrag zur Einstimmung geben – eine Rückschau auf den Winter und warum wir scheinbar so gut durch diese Krise gekommen sind. Dann wird es Einwürfe geben – von unserem wissenschaftlichen „Beobachtungskollektiv“, das im vergangenen Winter Eindrücke aus der ganzen Welt gesammelt hat. Was ist nicht so gut gelaufen? Was sind die Folgen? Wie haben andere Länder reagiert? Darüber werden wir sehr eindrücklich berichten. Idealerweise entsteht anschließend eine Diskussion mit dem Publikum.

Was hat es mit dem „Beobachtungskollektiv“ auf sich?

Unser „Global Observatory“ hatte das Ziel, die Debatten und Aktionen des vergangenen Winters weltweit zu verfolgen und zu dokumentieren. Ursprünglich aus einer losen Verabredung heraus entstanden, haben sich Forschende aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten angeschaut, was in ihren Forschungs- oder Heimatländern geschieht und wie die Menschen dort auf Krieg, Klima- und Energiekrise reagieren. Wir haben Berichte aus Australien, China, Korea, Chile, Kolumbien, Peru, Ungarn, Griechenland und Deutschland gesammelt und analysiert. Wie sieht der öffentliche Diskurs dort aus? Welche persönlichen Erfahrungen haben die Menschen gemacht? Wie wird die Klimakrise im Vergleich zu den anderen Krisen diskutiert und dargestellt? Und welche Lösungen gibt es in den jeweiligen Ländern?

Wie fällt Ihre Rückschau auf den vergangenen Winter denn aus?

Es ist ja erstaunlich wenig passiert. Aber diese unerwartete Ruhe hat natürlich auch ihren Preis, den vor allem andere bezahlen. Deutschland hat sich auf dem Weltmarkt Energie beschafft – mit teilweise sehr fragwürdigen Methoden. So wurde etwa der Mehrbedarf an Energie in Deutschland auch dadurch gesichert, dass man politisch den Ausbau eines sehr umstrittenen Kohlebergbaus in Kolumbien befördert. Das Klima oder die Rechte indigener Völker spielten dabei keine Rolle. Unser Handeln verschärft bestehende Konflikte auf der ganzen Welt. Darüber wird aber nicht diskutiert, wir ignorieren die Folgen unseres Lebensstils. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns fragen, ob es wirklich so eine tolle Leistung ist, einen Winter lang die Heizung ein paar Grad herunterzustellen oder den Pool nicht zu beheizen.

Was erhoffen Sie sich als Wissenschaftler von diesem Veranstaltungsformat?

Die KOSMOS-Lesungen sind nicht einfach nur ein Fachvortrag, sondern sprechen eine breite Öffentlichkeit an und haben auch eine politische Dimension. Wir reagieren als Gesellschaft zu wenig und zu langsam auf die aktuellen Krisen wie den Klimawandel. Gerade erleben wir, dass ein Klimaschutzgesetz verwässert wird, ohne dass die Leute auf die Barrikaden gehen. Wie ist das möglich? Ich denke, viele Menschen vertrauen immer noch viel zu sehr darauf, dass es individuelle oder nationalstaatliche Lösungen geben wird, dass Deutschland oder Europa eine Führungsrolle übernehmen und technische Lösungen präsentieren werden, die uns den Weg aus der Klimakrise zeigen. Aber das ist ein Irrtum. Deshalb wollen wir diesen Glauben ein wenig erschüttern und zeigen, dass es im Kern um etwas ganz anderes geht: Nämlich darum, wie ein gutes Leben aussehen kann, das nicht an denselben Ressourcenverbrauch geknüpft ist. Wir brauchen eine tiefgreifende Transformation und müssen die dafür notwendigen und richtigen Wege finden.

Die Veranstaltung ist für Sie auch so etwas wie ein Abschied aus Berlin – Sie nehmen einen Ruf an die Technische Universität München an. Wie geht es für Sie wissenschaftlich weiter?

Ich komme ja aus der ethnografischen Forschung und untersuche, wie Menschen zusammen in verschiedenen, sich verändernden Umwelten leben. In München werde ich mich verstärkt mit Science and Technology Studies beschäftigen. Da geht es etwa um die Frage, wer welches Wissen produziert und welche Konsequenzen das hat. Beispielsweise können wir heute planetare Grenzen ermitteln oder mit Klimamodellen das zukünftige Klima berechnen. Und dieses Wissen hat Auswirkungen darauf, wie wir Politik machen. In meiner Forschung wird es also weiterhin einen Umweltschwerpunkt geben.

Das Interview führte Heike Kampe.