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„Kulturelles Erbe ist nicht stabil, sondern wandelt sich durch vielstimmige Aushandlungsprozesse“

Interview mit den Direktorinnen des Käte Hamburger Kolleg inherit. heritage in transformation, Prof. Dr. Eva Ehninger und Prof. Dr. Sharon Macdonald.
Alternativtext

Die Direktorinnen des Kähte-Hamburger-Kollegs: Prof. Dr. Sharon
Macdonald, Sozialanthropologin, Prof. Dr. Eva Ehninger,
Kunsthistorikerin (V.l.n.r.), Foto: Michelle Mantel

Was wird unter dem Begriff Kulturerbe verstanden?

Bei inherit arbeiten wir bewusst mit dem englischen Begriff „Heritage“, da der deutsche Begriff „Kulturerbe“ zwei Einschränkungen mit sich bringt. Erstens legt er den Fokus auf Kultur, während wir auch das „natürliche“, „intellektuelle“ oder „genetische“ Erbe in unsere Forschung einbeziehen und die Wechselwirkungen dieser unterschiedlichen Facetten erforschen wollen. Zweitens verweist der Begriff „Erbe“ auf Identität, Zugehörigkeit und Eigentum. Diese Zuschreibungen möchten wir in unserer Forschung hinterfragen. Dazu analysieren wir, welchen sozialen, politischen, juristischen, technischen, ökonomischen und ökologischen Prozessen sie unterworfen sind. 

Sie forschen zu „Heritage“ in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Von welchen Thesen gehen Sie aus?

Eine Grundannahme unserer Arbeit bei inherit ist, dass „Heritage“ gemacht wird. „Heritage“ wird hergestellt durch die Produktion, Auswahl, Kombination, Bewertung, Umwidmung und Präsentation von kulturellen Praktiken, Objekten, Kunstwerken oder Architekturen. Kulturelles Erbe ist nicht stabil, sondern wandelt sich durch vielstimmige Aushandlungsprozesse. Entsprechend interessieren uns alle Themen, anhand derer diese Veränderung, Neubewertung und Umdeutung von Kultur zu analysieren und konzeptuell zu erfassen sind.

Um welche Themen geht es dabei?

Drei Themenlinien strukturieren unsere Kollegarbeit, die eng aufeinander bezogen sind. Erstens die „Dezentrierung des Westens“, also eine Verschiebung des Westens beziehungsweise globalen Nordens aus dem Zentrum der Beobachtung. Unsere Fellows arbeiten zu Heritage-Konzepten in anderen Sprachen, die westliche Vorstellungen von Handlungsmacht, Eigentum oder Zeitlichkeit hinterfragen. Chunjie Zhang erforscht, wie Philosophen in Europa und China zu Beginn des 20. Jahrhunderts jeweils am Konzept einer „Weltkultur“ arbeiteten. Javier Toscano beschäftigt sich mit unterschiedlichen Konzeptionen von Zeit und Apparaturen der Zeitvermessung in geographisch wie historisch weit verstreuten Kulturen. Wir beschäftigen uns mit dem komplexen Verhältnis von Imperialismus, Kolonialismus, Unabhängigkeitsbewegungen, Dekolonisierung und Nationalismen in unterschiedlichen geographischen und historischen Zusammenhängen.

Kyrill Kunakhovich zeigt, dass die Konzeption von Heritage, die dem globalen Projekt der UNESCO World Heritage zugrunde liegen, ganz und gar nicht lediglich auf westlichen Parametern beruhen.

Die zweite Themenlinie vollzieht eine „Dezentrierung des Menschen“, der Fokus liegt also auf Verbindungen und Verflechtungen mit der Natur. Unsere Fellow Saskia Abrahms-Kavunenko erforscht das veränderte Verhältnis der Bewohner*innen von der Christmas Island zu Plastik. Seit dort aufgrund von Meeresströmungen regelmäßig riesige Mengen Plastik an die Strände geschwemmt werden, wird dieses Material neu bewertet und sogar verehrt. Christof Lammer beschäftigt sich mit dem chinesischen “Panda heritage”, das sich sowohl auf der Ebene von Artenschutz als auch auf der Ebene von Kulturdiplomatie abspielt.

Unsere dritte Themenlinie beschreibt eine Konsequenz der beiden ersten Schwerpunkte. Die genannten Dezentrierungen verändern unsere Wahrnehmung von Wert: Was als bewahrenswert angesehen wird, und aus welchem Grund, wer Anspruch auf Objekte hat und warum, wo Objekte aufbewahrt und wie sie zugänglich gemacht werden sollten, all diese Fragen werden neu gestellt. Sie finden sich in den schon genannten Forschungsprojekten wieder, aber es gibt auch Fellows, die ganz spezifisch zu derartigen Transformationen von Wert und Bedeutung arbeiten. Amy Buono beispielsweise fokussiert auf das bisher unbeachtete Heritage von Minoritätsgruppierungen in Brasiliens Kolonialgeschichte. Megha Yadav forscht zu buddhistischen Objekten in Tibet und weist nach, dass die bisherige, europäische Interpretation dieser Objekte ihre komplexen Bedeutungsebenen nicht erfasst.

Digitalisierung, die veränderte Kommunikation durch die sozialen Plattformen, das Erstarken rechter Parteien, Kriege – weltweit befinden sich Gesellschaften in Veränderungsprozessen. Welche Fragen stellen Sie aus der Perspektive der Erforschung von Kulturerbe? 

Der Bereich des Kulturerbes ist einerseits von diesen vielfältigen global-gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen direkt betroffen. „Heritage“ spielt sowohl für aktuelle Anstrengungen der Demokratisierung, Dekolonisierung und Dekanonisierung von Geschichte und Wissen eine entscheidende Rolle, genauso wie für gegenwärtige identitätspolitische und nationalistische Narrative. Auch mit Blick auf die Klimakrise stellt sich die Frage, was für zukünftige Generationen aufgehoben werden sollte, und in welcher Form. Dadurch birgt die „Heritage“-Forschung gleichzeitig auch ein großes Potenzial, an der Imagination und Gestaltung unserer Zukunft teilzunehmen. Sie kann unterschiedliche Formen kultureller Teilhabe erforschen und praktizieren, und dadurch aktiv auf die Transformationsprozesse unserer Zeit einwirken. Das haben wir bei inherit vor, indem wir unterschiedliche künstlerische und kuratorische Formate im Rahmen der Kollegarbeit entwickeln, die unterschiedliche Akteure einbinden und die interessierte Öffentlichkeit ansprechen werden. Die zahlreichen und ungemein vielfältigen Berliner Sammlungen werden natürlich eine ganz wichtige Rolle spielen. Der Künstler Raviv Ganchrow hat für seine geplante Klanginstallation, die sich mit Zeitlichkeit von Heritage beschäftigt und dafür die unterschiedlichen Verbindungen von Mensch und Wal untersucht, sich bereits mit dem Technikmuseum, den Sammlungen der HU und dem Naturkundemuseum in Verbindung gesetzt.

Gibt es weitere aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, die Sie besonders interessant finden und die sie im Projekt bearbeiten werden?

Wir wollen die vielfältige und internationale Heritage-Forschung, die sich bei inherit versammelt, immer wieder anschlussfähig machen an Themen, die uns in Berlin und Deutschland aktuell beschäftigen. Die Künstlerin Juana Awad möchte beispielsweise in ihrer Arbeit bei inherit zusammen mit der „Werkstatt der Kulturen“ das Kulturerbe Deutschlands als einer postmigrantischen Nation sichtbar machen. Der Künstler Dani Gal beschäftigt sich mit gegenwärtigen Erinnerungskulturen. Die ukrainische Forscherin Ganna Liulikova konstatiert die Marginalisierung ostslawischer Kulturen und deren Subsumierung unter dem Begriff der „russischen Kultur“. Diesem imperialen Gestus, der im russischen Angriffskrieg seine blutige Fortsetzung findet, stellt sie die Entwicklung nationaler Narrative in der Ukraine, Belarus und dem Baltikum gegenüber.

Wie viele Fellows und Wissenschaftler*innen aus anderen Ländern werden bei inherit zusammenarbeiten und welche Perspektiven bringen sie ein?

In unserem Kolleg bilden wir gemeinsam mit 15 internationalen Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Kurator*innen, die jährlich bei uns zu Gast sind, eine Lerngemeinschaft, um unterschiedlichste Konzepte und Praktiken von Heritage systematisch zu analysieren und zu aktivieren. Einige Beispiele haben wir ja bereits genannt.

Was erhoffen Sie sich, mit Ihrem Projekt zu erreichen?

Wir hoffen, dass das Kolleg Modellcharakter für eine praxisorientierte, selbstreflexive und im offenen Dialog entwickelte geisteswissenschaftliche Forschung hat. Durch seine internationale und transdisziplinäre Ausrichtung werden unterschiedlichste Heritage-Praktiken in die angestrebte methodische und theoretische Neuorientierung der Heritage-Forschung einfließen. Dadurch kann das Verhältnis von Gesellschaft, Geschichte, Kultur und Natur grundlegend neu gefasst werden. Darüber hinaus tauschen wir uns eng mit der Praxis aus. Die Forschungsergebnisse des Kollegs werden in experimentellen Formaten aufbereitet und öffentlich zur Verfügung gestellt. Der lebendige und kontinuierliche Austausch mit unterschiedlichen Akteuren wird die Forschung stetig befruchten. Unser Ziel ist die Etablierung eines kritischen, transdisziplinären und praxisorientierten geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldes, das die globalgesellschaftlichen Umwälzungen unserer Gegenwart analysiert, kontextualisiert und mitgestaltet.

Die Fragen stellte Heike Bräuer.