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„Auf beiden Seiten gab es viele Ungleichheitserfahrungen“

Die beiden Migrationsforscher Özgür Özvatan und Daniel Kubiak vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) haben sich vor mehr als zehn Jahren am Institut für Sozialwissenschaften der HU kennengelernt: Der eine Student mit Migrationsgeschichte aus dem Westteil Berlins, der andere wissenschaftlicher Mitarbeiter, geboren und aufgewachsen in Ostberlin. Seit Mai 2023 erzählen sie sich ihr Leben gegenseitig im Podcast B.O.M. und sprechen mit Gästen über Berlin.Ost.Migrantisch.
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Daniel Kubiak und Özgür Özvatan, Foto: Stefan Klenke

Wie kam es zu dem Podcast? Was war Ihre Motivation?

Daniel Kubiak: Wir sind beide schon relativ lange Kollegen hier am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM), und in unseren Dissertationen haben wir uns beide mit Fragen von Zugehörigkeit auseinandergesetzt. Da haben wir immer wieder diskutiert: Was sind eigentlich unsere Gemeinsamkeiten? Was haben wir für ähnliche Erfahrungen gemacht? Wir sind beide in Berlin geboren und zwölf Kilometer Luftlinie voneinander entfernt aufgewachsen, haben aber doch oft ganz unterschiedliche Geschichten in Berlin erlebt. Da haben wir gedacht, ja, lass uns das im Podcast erzählen, wo wir diese drei Erfahrungen – also ostdeutsch sein, Migrationsgeschichte in West-Berlin haben, in Berlin aufwachsen – mal zusammenbringen.

Was verbindet ostdeutsche und westdeutsche migrantische Erfahrung – worin besteht das Trennende?

Özgür Özvatan: Uns hat die Mauer getrennt - eindeutig, die Mauer erst mal als physische Mauer und später eben als „Mauer in den Köpfen“, die dann auch ihre Kontinuität hatte. Wir sprechen in dem Podcast auch über Konflikte, über migrantische Aversionen gegenüber Ostdeutschen. Damals war das ein gängiger Begriff. Hass und Hetze in Ostdeutschland gegenüber Migrantinnen, Rassismus, all das sind natürlich trennende Erfahrungen. Aber eigentlich sind die Erfahrungen doch ziemlich ähnlich, nämlich, dass da auf beiden Seiten viele Ungleichheitserfahrungen gemacht wurden. Die sind nicht gleichzusetzen. Aber sie können beieinander andocken. Das ist, glaube ich, ganz zentral für ost-migrantische Analogien.

Daniel Kubiak: Zum Beispiel gibt es diese gemeinsame Erfahrung im Studium an der Humboldt-Universität: auf Professor:innen zu treffen, die nicht die ostdeutsche Geschichte in ihrer Biografie tragen und auch keine Migrationsgeschichte. Diese Themen kamen auch in der Lehre sehr selten vor. Ich weiß noch ganz genau, als ich im sechsten Studienjahr, das war 2009, zum ersten Mal ein Seminar zu Ostdeutschland besucht habe. Und dieses Seminar zu Ostdeutschland ist damals von Hildegard Maria Nickel, der einzigen Ostdeutschen und auch der einzigen Frau am Institut für Sozialwissenschaften angeboten worden. Das kommt nicht von ungefähr. Die Seminare, die sich heute am Institut für Sozialwissenschaften mit Ostdeutschland beschäftigen, die kommen entweder von mir oder von Steffen Mau, der ebenfalls in Ostdeutschland aufgewachsen ist. Da merkt man, dass die eigene Biographie und die eigenen Erfahrungen sich durchaus in den Themen niederschlagen, die man lehrt und zu denen man forscht.

Für Ihre Forschung, Herr Özvatan, spielt die Erzähltheorie eine wichtige Rolle. Sind sie deshalb auf das Medium Podcast gekommen?

Özgür Özvatan: Wir haben gar nicht so viel drüber gesprochen, warum wir dieses Format des gegenseitigen Erzählens wählen. Das hat sich, glaube ich, organisch entwickelt, weil wir uns im Büro ständig gegenseitig ost-migrantische Geschichten erzählen. Der Podcast war eine aufgezeichnete Weiterführung unserer Gespräche im Büro, jedenfalls sind die ersten sechs Folgen so entstanden. Menschen öffnen sich für Lernprozesse erst, das sagt die Erzähltheorie, wenn sie irritiert werden, wenn sie merken, dass etwas so wie es bisher war, nicht funktioniert. Durch erzählerische Irritation können sie sich von Positionen distanzieren, die sie vorher hatten: Dann schmunzel‘ ich über mein eigenes Verhalten von vor zwei Wochen und sage, wie blöd war ich denn zu glauben, dass das so funktionieren würde? Und diese Irritation, die entsteht tatsächlich nur, wenn diese unsichtbaren Geschichten sichtbar werden, und wenn ich mir die Zeit nehmen kann, auch die Komplexität dieser Geschichte zu verstehen. Und das können Podcasts leisten, weil sie den Raum dafür haben.

Es geht also darum, die Öffentlichkeit zu irritieren.

Özgür Özvatan: Ja, absolut.

In den seit August entstandenen Folgen des Podcasts sprechen Sie nicht nur über sich, sie sprechen auch mit Gästen.

Daniel Kubiak: Ja, und Aline Abboud, unser erster Gast, ist sozusagen das Paradebeispiel. Vater aus dem Libanon, Mutter aus der DDR. Aufgewachsen in Pankow. Sie vereint in ihrer Biographie alles, was unseren Podcast ausmacht: Berlin, migrantisch und ostdeutsch. Aber in der Erzählung des Antagonismus würde ihre Biografie gar nicht existieren, weil Ostdeutschland als Raum ohne Migration erzählt wird. Oder Martin Gerlach, der sich als „Wossi“ bezeichnet, weil er zwar im vielfältigen Kreuzberg aufwächst, aber auch regelmäßig seine Verwandten in Rangsdorf in der DDR besucht. Diese facettenreichen Geschichten aus Berlin müssen erzählt werden.

Özgür Özvatan: Vielleicht eine Sache noch, weil wir gerade über Irritationen gesprochen haben: Allein die Message rauszugeben, Ostdeutsche und migrantische Menschen sind ähnlich schlecht repräsentiert in allen Elite-Sektoren. Full stop. Allein diese Message irritiert Menschen schon, weil sie womöglich dachten, oh ja, auf die Migranten trifft das vielleicht zu, aber doch nicht auf die Ostdeutschen. Oder anders herum. Und genau diese Irritation ist der Startschuss für die Bereitschaft offen zuzuhören, wie das sein kann und was es bedeutet. Die biographischen Geschichten führen dann in die Komplexität hinter diese Erkenntnis über Repräsentationslücken ein. Wir versuchen also Lernprozesse bei unseren Zuhörer:innen anzuregen – verstehen uns also durchaus als Servicepodcast der politischen Bildung für eine Gesellschaft, die ihre liberal-demokratischen Prämissen ernster nimmt.

Wie geht es weiter mit dem Podcast?

Daniel Kubiak: Wir haben angefangen die zweite Staffel zu produzieren. Unsere Gäste sind auch wieder Leute aus Berlin und der Anspruch ist, dass sie aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Medien, Politik und Zivilgesellschaft kommen. Zum Beispiel die Schauspielerin Laura Kiehne aus der Serie Babylon Berlin, die Politikerin und Autorin Sawsan Chebli oder der Ostberliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der auch ukrainische Wurzeln hat.

Die Fragen stellte Kristina Vaillant.

Weitere Informationen

Zum Podcast B.O.M. – Berlin.Ost.Migrantisch