Schrödinger: Neue Erkenntnisse zu einer aufgeheizten Debatte
In ihrem Vortrag beschäftigten sich Magdalena und Martin Gronau
besonders mit der Perspektive der betroffenen Frauen.
Foto: Peter Kronenberg
Im Zuge der Debatte um eine mögliche Umbenennung des Erwin-Schrödinger-Zentrums an der Humboldt-Universität wurde wiederholt kritisiert, dass sich die Missbrauchsvorwürfe gegen Schrödinger auf eine sehr dünne Faktenlage stützen – vor allem, weil die Tagebücher Schrödingers von der Familie unter Verschluss gehalten werden.
Bereits bei der Diskussionsveranstaltung im Februar 2024 am Campus Adlershof hatten viele der Teilnehmenden sich eine bessere Faktenlage gewünscht. Die Missbrauchsvorwürfe basieren nämlich fast ausschließlich auf einer Biographie von 1989, die vom US-amerikanischen Chemiker Walter Moore verfasst wurde und schon bei deren Veröffentlichung für seine Unwissenschaftlichkeit kritisiert wurde. Moore schrieb in seinem umfangreichen Buch über Schrödingers Werdegang als Physiker auch über dessen Liebesleben. Grundlage hierfür waren nach Moores Angaben Schrödingers Tagebücher und Gespräche, die Moore mit Familienangehörigen, Bekannten und ehemaligen Geliebten von Schrödinger führte.
Tatsächlich gibt es jedoch eine neue Faktenlage: Wie sich im Nachgang zur Veranstaltung im Februar herausstellte, haben die Wissenschaftler*innen Dr. Dr. Magdalena Gronau und Martin Gronau vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin im Rahmen ihres umfangreichen Forschungsprojekts „Die Philologie der Physiker“ auch die Tagebücher einsehen können. Sie haben sich eingehend mit diesen und anderen wichtigen Quellen befasst und kommen zu dem Schluss, dass die Missbrauchsvorwürfe gegenüber Schrödinger nicht berechtigt sind.
In ihrem Vortrag beschäftigten sich Magdalena und Martin Gronau besonders mit der Perspektive der betroffenen Frauen. Einige Frauen, um die es in der Biographie geht, hätten einer Veröffentlichung nicht zugestimmt und sich über die unsaubere Arbeitsweise von Moore beschwert. So schrieb beispielsweise eine Interviewpartnerin einen Beschwerdebrief an Moore, in dem sie beklagt, er habe Fakten verdreht, tendenziös miteinander in Verbindung gesetzt und vieles schlicht falsch dargestellt. Die Familie des Physikers war von dem publizierten Werk, das ihr im Vorfeld nicht zur Freigabe vorgelegt wurde, so erschüttert, dass sie den Nachlass für die Öffentlichkeit sperrte. Es gab daher bisher keine Möglichkeit zur Überprüfung von Moores Behauptungen und den darauf basierenden medialen Zuspitzungen.
Tagebücher in vier Sprachen und vier Schriften
Eine weitere wichtige Erkenntnis, die Magdalena und Martin Gronau zur Verwendung der Tagebücher herausgearbeitet haben, ist deren herausfordernder Charakter und die daraus folgende verfälschende Lektüre durch Moore. Die Tagebücher sind teilweise schlecht erhalten. Schrödinger schrieb zudem in vier verschiedenen Sprachen (Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch) und wechselte dabei zwischen vier verschiedenen Schriften hin und her (lateinische Schreibschrift, Kurrentschrift, Gabelsberger Kurzschrift, altgriechischen Schriftzeichen). Moore war schlicht nicht in der Lage, die meisten Einträge zu lesen. Seine Erzählung fußt auf den wenigen Stellen, die er entziffern konnte und somit zwangsläufig aus dem Kontext riss.
Es ging um Verkehrsregeln, nicht Frauen
Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist ein von Moore verwendetes Tagebuch-Zitat, das in der medialen Debatte um die Missbrauchsvorwürfe gegen Schrödinger oft aufgegriffen wurde, um zu behaupten, er hätte seine sexuelle Übergriffigkeit selbst legitimiert. „In Germany, if a thing was not allowed, it was forbidden. In England if a thing was not forbidden, it was allowed. In Austria and Ireland, whether it was allowed or forbidden, they did it if they wanted to“, wird Schrödinger zitiert. Aus der Quellenprüfung von Magdalena und Martin Gronau geht hervor, dass das Zitat aus einem nicht publizierten Vortrag Schrödingers über kulturelle Differenzen stammt. In der betreffenden Passage reflektiert Schrödinger aus der Ausländerperspektive über Verkehrsregeln in unterschiedlichen Ländern – und nicht etwa über den Umgang mit Frauen.
Wichtige Fakten für eine Entscheidung
Magdalena und Martin Gronau formulierten abschließend die These, dass der Skandal um Erwin Schrödingers Person das Resultat eines folgenschweren Zusammenwirkens von schlechter wissenschaftlicher Praxis und medialer Skandalisierungskultur sei. Die Missbrauchsvorwürfe beruhten nicht auf neuen Erkenntnissen, sondern auf zugespitzten Neu-Interpretationen einer unwissenschaftlichen Biographie und seien somit unbegründet. Dass das Dubliner Trinity College den Erwin Schrödinger Vorlesungssaal auf Druck aus der Studierendenschaft zügig umbenannte, ist ein Beispiel für eine nicht quellen- und faktenbasierte Entscheidung in einer eigentlich den Regeln der Wissenschaftlichkeit verpflichteten Einrichtung. Die Forschung von Magdalena und Martin Gronau ermöglicht es der HU, eine fundierte Entscheidung auf Faktenbasis zu treffen. Die Veröffentlichung der beiden Wissenschaftler*innen wird in Kürze erwartet.
Autorin: Ina Friebe