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„Versklavte Plantagenarbeiter und europäische Fabrikarbeiter gehören zeitgeschichtlich zusammen“

Interview mit Manuela Bojadžijev, Professorin für Europäische Ethnologie und Migrationsforschung am Institut für Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Berliner Institut Integrations- und Migrationsforschung über moderne Formen der Sklaverei. Am 3. November findet eine Podiumsdiskussion zum Thema im Rahmen der Berlin Science Week statt

Sklaverei ist heute überall auf der Welt verboten – bestätigt 1948 durch die Menschenrechtskonventionen der UNO. Dennoch gibt es auch heute Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Kinderarbeit. So findet im nächsten Jahr die Fußballweltmeisterschaft in Katar statt. Mehr als eine Million Arbeiter haben dort unter menschenunwürdigen Bedingungen Stadien und Infrastruktur zur Fußball-WM gebaut. Warum sind solche “moderne Formen” der Sklaverei und Ausbeutung möglich?

Prof. Manuela Bojadžijev: Aus meiner Sicht gehen wir erstens zu einfach von einer historischen Entwicklung aus von archaischen Formen hin zu immer freieren Formen der Arbeit. Zugleich lässt sich zweitens nicht einfach eine klare Trennlinie ziehen zwischen freier und erzwungener Arbeit. Die Übergänge hängen sowohl von rechtlichen Bedingungen der Arbeit ab, hier vor allem vom vertraglichen Arbeitsverhältnis, aber auch vom Status und den gesellschaftlichen Bedingungen. Denken Sie nur an die Übergänge von informeller und formeller Arbeit in der heutigen europäischen Landwirtschaft. Und drittens brauchen wir auch eine globale Perspektive, wenn wir zu einer historischen und gegenwärtigen Einordnung unfreier Arbeit kommen wollen. Nehmen Sie die Formen der Indentur- und Kinderarbeit anderswo, die unseren Lebensstil prägen in der „Externalisierungsgesellschaft“, wie Stephan Lessenich das nennt.

Würde konkret ein Boykott der Fußball-WM etwas ändern an der Gesamtsituation und der Lage der Arbeiter:innen?

Bojadžijev: Solche Arbeitsverhältnisse sind in vielen Ländern gang und gäbe. Sie sprechen hier aber die Ausrichtung eines globalen Ereignisses an, bei dem sich die tragenden Organisationen öffentlich immer wieder gerne für Menschenrechte und ähnliche Werte einsetzen. Zur gleichen Zeit verweisen zahlreiche Akteure auf die Zustände der Ausbeutung der oftmals migrantischen Arbeiter:innen: es gibt Fan-Initiativen, ein Boykott wird ins Spiel gebracht und so weiter. Der Adressat ist allerdings die weltweite Fußballindustrie, es sind global agierende Sponsoren. Man muss sich also fragen, warum trotz der entsprechenden Öffentlichkeit zur Fußball-WM die Aussichten und Möglichkeiten so gering sind, auf die buchstäblichen Fundamente dieser Veranstaltung Einfluss zu nehmen. Und warum einflussreiche Akteure sich da raushalten, wo es darauf ankäme.

Auch in Deutschland gibt es Fälle von Ausbeutung – etwa die der meist aus osteuropäischen Ländern stammenden Erntehelfer:innen oder die der Arbeiter:innen in der Fleischindustrie. Wie kann man diesen Zustand bei uns ändern?

Bojadžijev: Wir sollten nicht Ausbeutung und Sklaverei verwechseln. Ausbeutung zielt darauf, wie Profit erzielt wird, das kann skrupellos und weniger skrupellos geschehen. Die dazu entsprechende historische Figur zur Zeit der Entstehung des Kapitalismus ist der/die Proletarier:in. Sklaverei dagegen zielt auf die Aneignung der Arbeit durch das Privateigentum an der Person. Und vergessen Sie nicht, dass die Sklaverei im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels vor allem im 17. und 18. Jahrhundert neu erfunden wurde, nämlich in ihrer industriellen Form der Plantage. Die Figur des versklavten Plantagenarbeiters und des europäischen Fabrikarbeiters gehören zeitgeschichtlich zusammen. Wie sie sich annähern, ist in den Arbeitsbedingungen in der Land- und Fleischwirtschaft unter Corona drastisch deutlich geworden: Wenn wir die Menschen rechtlich gleichstellen würden, könnte das so nicht geschehen. Das ist aber jetzt natürlich nur eine kurze Antwort…

Laut UNHCR waren im vergangenen Jahr mehr als 82 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Welche Rolle spielen dabei Ausbeutung, Zwangsarbeit oder moderne Sklaverei?

Bojadžijev: Abwanderung hat häufig etwas mit dem Versuch zu tun, dem Griff der abhängigen Arbeit zu entkommen. Historisch war es das Entkommen aus der Leibeigenschaft in die anwachsenden Städte. Heute fliehen die Menschen nicht selten vor Ausbeutung. Zugleich aber trägt die Entrechtung durch Flucht und Migration dazu bei, dass Menschen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse eher akzeptieren müssen. Migration und Sklaverei werden so tatsächlich öfter in Verbindung gesetzt. Schon in den 1960er Jahren protestierten migrantische Arbeitende in Frankfurt am Main unter dem Motto „Wir sind keine Sklaven“. Heute werden Schleuser als Menschenhändler bezeichnet und so die Flucht über das Mittelmeer skandalisiert und inkriminiert. Der Wunsch nach Flucht an einen Ort vermeintlicher Freiheit ist jedoch aus meiner Sicht das verbindende und interessante Glied: raus aus diesen Verhältnisse zu wollen.

Inwiefern begünstigt die Globalisierung Zwangsarbeit und Ausbeutung?

Bojadžijev: Das ist ein komplexes Phänomen. Wir haben die Situation der Lohnabhängigen hierzulande zu sichern versucht. Das geschieht durch entsprechende Wirtschaftspolitik und Sicherungssysteme, wie in Solidaritätsmechanismen der Sozialversicherung. Dazu gehören dann die Versuche, bezahlbaren Wohnraum, ein Gesundheits- und Bildungssystem, Transportmittel und Kultur öffentlich zu finanzieren. Zudem gibt es Verhandlungen über das Lohnniveau zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Staat. Globalisierung trägt nun dazu bei, dass sich die Verhandlungsmacht national agierender Akteure verringert: outsourcing, Steuerflucht usw. sind hier Symptome einer Aufkündigung gesellschaftlicher Verpflichtungen. Wo Sicherungssysteme durch neoliberale Politiken erodieren und der „indirekte Lohn“ sich verringert, und wo zugleich Phänomene der Leiharbeit und entrechtete Arbeitsverhältnisse wie in der Gig Economy den formellen Arbeitsmarkt unterlaufen, spüren wir die Zunahme von Armut in der Menge und exorbitanten Reichtum von wenigen.  

Oftmals sind Konsumprodukte wie Smartphones oder Make-Up durch Kinderarbeit entstanden. Etwa bei der Rohstoffgewinnung von seltenen Erden für das Smartphone oder für das in der Kosmetik- und Autoindustrie begehrte Mineral Glimmer. Welche Auswirkungen hat der globale Konsum auf Sklaverei und Ausbeutung?

Bojadžijev: Die Zerstörung von Leben wie bei der Kinderarbeit steht neben der Zerstörung der Lebensbedingung und der Umwelten oder der Vertreibung von Menschen durch land grabbing. So wie die Kulturgeschichte des Zuckers die Geschichte der globalen Ausbeutungsverhältnisse erzählen lässt, wunderbar dargestellt etwa durch den Sozialanthropologen Sidney Mintz, gilt das heute für die Produktion von Smartphones, deren Nutzung unser Leben durchdringt. Wir müssen sicher zur Aufklärung beitragen. Wenn aber das Auto und das Smartphone unser Leben derart prägen, dass sie zu Infrastrukturen unseres Alltags werden, dann ist es mit einem anderen Konsumbewusstsein nicht getan.  

Die Fragen stellte Kathrin Kirstein.

Veranstaltung

Berlin Science Week @ HU:

Ausbeutung, Zwangsarbeit, Flucht und Migration – moderne Formen der Sklaverei

Mittwoch, 3. November 2021, 19.00 Uhr
Humboldt-Universität zu Berlin, Senatssaal, Unter den Linden 6, 10117 Berlin

Mit: 

  • Friedel Hütz-Adams (Südwind, Institut für Ökonomie und Ökumene) 
  • Prof. Dr. Herbert Brücker (Berliner Institut für empirische Migrationsforschung, HU Berlin)

Moderation: Suhana Elisabeth Reddy (IRI THESys, HU Berlin)

Die Podiumsdiskussion untersucht, welche Rolle moderne Formen der Sklaverei heute spielen und in welcher Verbindung sie zu Migration stehen.

Anmeldung zur Veranstaltung