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„Den eigenen wissenschaftlichen Interessen folgen“

Susanne Schreiber, Professorin für Theoretische Neurophysiologie, wird mit der Caroline von Humboldt-Professur ausgezeichnet
Alternativtext

Prof. Dr. Susanne Schreiber, Foto: Matthias Heyde

Frau Prof. Schreiber, woran forschen Sie in Ihrer Arbeitsgruppe Computational Neurophysiology?

Prof. Dr. Susanne Schreiber: Kurz gesagt, nutzen wir Mathematik, um Nervenzellen zu beschreiben und dadurch zu verstehen, was das Gehirn macht.

Und etwas ausführlicher?

Schreiber: Wir beschäftigen uns mit der Hypothese, dass die Eigenschaften der Nervenzellen selbst – und nicht nur ihre Verschaltung untereinander – bestimmen, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Ich nenne das gerne „die Persönlichkeit“ der Nervenzellen. Dabei berücksichtigen wir evolutionäre Einflüsse, etwa dass die Temperatur nicht immer gleich ist und auch Energie nicht unbegrenzt zur Verfügung steht.

Was wäre ein konkretes Beispiel?

Schreiber: Kürzlich haben wir in der Fachzeitschrift Nature über das Flugsystem der Fruchtfliege berichtet. Es geht dabei um einen Schaltkreis, der die Muskeln des Insekts steuert. Unsere mathematischen Überlegungen haben gezeigt, dass Nervenzellen mit einer bestimmten Persönlichkeit das richtige Flugmuster erzeugen, wenn sie elektrisch und nicht chemisch gekoppelt sind. Das war überraschend. Elektrischen Verbindungen hat man ein solches Verhalten nicht zugetraut.

Wie lassen sich solche Forschungen auf den Menschen anwenden?

Schreiber: Wir hoffen zum Beispiel langfristig dazu beizutragen, die Mechanismen aufzuklären, wie Epilepsien entstehen.

Inwiefern arbeiten Sie interdisziplinär?

Schreiber: Im Idealfall – so war das jetzt bei der Fruchtfliege – entdecken wir auf Grundlage mathematischer Berechnungen ein Prinzip. Dann schauen wir gemeinsam mit experimentell arbeitenden Kolleg:innen, in diesem Fall an der Uni Mainz: Liegt dieses Prinzip im realen System, in der Natur, tatsächlich vor?

Sie haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten und seit 2021 die Einstein-Professur für Computational Neurophysiology inne. Wie skizzieren Sie Ihren Werdegang als Frau in der Wissenschaft?

Schreiber: Im Rückblick sieht es vielleicht geradlinig aus, ist es aber nie. Ich habe Zeiten in meiner Karriere gehabt, wo ich nicht wusste, wie es weiter geht. Es war gut, den eigenen wissenschaftlichen Interessen kontinuierlich zu folgen und sich nicht entmutigen zu lassen. Auf meiner Webpage steht ein Leitspruch von Michelle Obama, der ungefähr so geht: Finde heraus, was deine Leidenschaft ist und bleib ihr treu.

Welche Förderung hat Ihnen konkret geholfen?

Schreiber: Ich habe sehr davon profitiert, dass ich eigene Projekte einwerben konnte. Und von Mentoring-Programmen. Darunter das Profil-Mentoring- oder das Leadership-Programm. Das hilft, sich mit weiblichen Forschenden zu vernetzen, sich auszutauschen, Mut zu schöpfen und Strategien zu erlernen - zum Beispiel für Bewerbungen.  

Sie selbst fördern den wissenschaftlichen Nachwuchs, darunter Postdocs, Promovierende und Masterstudierende in besonderer Weise. 2018 wurden Sie dafür mit dem HU-Lehrpreis ausgezeichnet und standen vier Jahre später wieder auf der Nominierungsliste. Was ist Ihnen als Mentorin wichtig?

Schreiber: Dass man das Interesse junger Leute weckt und sie auf dem Weg zu selbständigen Forscherpersönlichkeiten begleitet. Dass man sie ermutigt, eigene Ideen zu entwickeln, auch mal „out of the box“ zu denken. Ein Stückchen mithelfen zu können durch Beratung und Interaktion, das macht mir Spaß.

Neben Ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit sind Sie stellvertretende Vorsitzende im Deutschen Ethikrat. Was ist dort Ihr Anliegen?

Schreiber: Ich bin der Meinung, dass naturwissenschaftliche Forschung – und dazu gehören auch die Lebenswissenschaften – die Gesellschaft voranbringt. Wir haben viele Erkenntnisse und technische Entwicklungen in der Biologie, die medizinisch und gesellschaftlich relevant sind. Andererseits haben wir bei jeder technischen Neuerung auch ethische Konfliktlinien.

Zum Beispiel?

Schreiber: Die Künstliche Intelligenz. Auch in unserer Arbeitsgruppe nutzen wir Methoden der KI und des maschinellen Lernens - gerade im Neurobereich ist man da sehr nah dran. Sie bietet tolle Möglichkeiten. Allerdings müssen auch die Risiken im Prozess ihrer Entwicklung minimiert werden. Die Gesellschaft muss breit über Licht- und Schattenseiten informiert werden und verstehen, worum es geht.

Wissen Sie bereits, wie Sie das Preisgeld anlegen möchten?

Schreiber: Wir haben die Idee, spezielle Organellen in unseren Zellen genauer zu erforschen - eine Art Klein-Kraftwerke, die die Energie bereitstellen. Ich würde gerne in experimentelle Technik investieren, um herauszufinden, wie diese Organellen Nervenzellen bei ihrer Arbeit unterstützen. Unser Gehirn ist eines der energie-intensivsten Organe überhaupt.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger

Über die Caroline von Humboldt-Professur

Die Caroline von Humboldt-Professur wird 2023 zum zehnten Mal vergeben. Ziel der Professur ist es, hervorragende Professorinnen der Humboldt-Universität noch sichtbarer zu machen und ihre Arbeit zu unterstützen. Die Vergabe der Caroline von Humboldt-Professur richtet sich an exzellente Professorinnen aller Disziplinen der HU, die sich durch ihr internationales Renommee, die Relevanz ihrer Forschungsergebnisse über das eigene Fachgebiet hinaus und ihre herausragende Publikationstätigkeit auszeichnen.