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35 Jahre Mauerfall: „Wir erlebten die Pulverisierung einer bisher fest zementierten Macht“

HU-Soziologe Steffen Mau spricht darüber, wie er das Ende des DDR-Regimes vor 35 Jahren und die Selbstermächtigung ihrer Bürgerinnen und Bürger erlebt hat
Steffen Mau sitzt auf einer Bank

Prof. Dr. Steffen Mau, Foto: Matthias Heyde

Sein Buch „Lütten Klein“ benannt nach dem Rostocker Stadtteil, in dem er aufgewachsen ist, wurde schon 2019 vom Verlag als „Das wichtigste Buch zum 30. Jubiläum des Mauerfalls“ beworben. Steffen Mau, seit 2015 Professor für Makrosoziologie an der HU, beschreibt darin das Ende der DDR als kollektiven Schock. Nach über vier Jahrzehnten DDR sei der plötzliche Zusammenbruch unvorstellbar gewesen. 35 Jahre nach dem Mauerfall – und ein Bestseller später - wollen wir von Steffen Mau wissen, wie er die Zeit des Umbruchs erlebt hat und welchen Einfluss diese Erfahrungen auf seine Berufswahl und seine Arbeit als Forscher und Publizist haben.

Als sich die Proteste der Bürger der DDR im Herbst vor 35 Jahren intensivierten, absolvierten Sie gerade den für junge Männer in der DDR verpflichtenden Wehrdienst in einer Kaserne in Schwerin. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Steffen Mau: Man muss sich das so vorstellen, dass man während der Armeezeit keinen freien Zugang zu Medien hatte, auch nicht zu Westfernsehen. Es gab einen Fernsehraum und da wurden einmal am Tag die DDR-Nachrichten eingeschaltet. Wir waren eben kaserniert und weitestgehend abgeschnitten. Als Soldat hatte man abends keinen Ausgang und auch ganz wenig Urlaub. Alles, was man wusste von draußen, das sickerte irgendwie rein, war unvollständig, kam auch mehr oder weniger gerüchtemäßig zu einem. Wir hatten eine Ahnung, dass draußen eine ganze Menge in Bewegung war, aber nur sehr spärliche Informationen. Jede Person, die von draußen kam, wurde von uns ausgefragt, um zu erfahren, was da passierte.

Der Höhepunkt war für uns nicht der 9. November, sondern das waren die Oktober-Demonstrationen zum 40. Jahrestag der DDR. Da gab es auch in dieser Kaserne Formen von Mobilmachung. Die LKWs standen schon auf dem Exerzierplatz und wir haben natürlich miteinander diskutiert: Was machen wir eigentlich für den Fall des Falles? Würden wir mit ausrücken oder nicht? Und ich bin extrem dankbar, dass sich diese Entscheidung nachher so nicht gestellt hat.

Sie beschreiben in Ihrem Buch „Lütten Klein“, wie in der Kaserne quasi über Nacht aus einem Befehlsregime, das unbedingten Gehorsam verlangte, ein Verhandlungsarrangement wurde. Wie war das möglich?

Mau: Als Soldat war man völlig machtlos, das hierarchische Gefälle war extrem. Man durfte nicht mal frei die Vorgesetzten ansprechen, sondern musste darum bitten, sprechen zu dürfen. Man war eben in der DDR nicht Bürger in Uniform, sondern ein Entrechteter in einem Zwangsapparat, der eine klare Hierarchie und Befehlskette kannte. Und durch die Vorgänge vor den Kasernentoren kam es zu einer Ermächtigung der untersten Chargen – das waren wir, die Soldatinnen und Soldaten. Wir fingen plötzlich an, den Vorgesetzten mit Forderungen gegenüber zu treten. Wir haben ganz früh schon einen Soldatenrat gegründet, dem ich damals angehörte und der dann als Verhandlungsdelegation zu den Offizieren, zum Kompaniechef und auch zur Generalität gegangen ist und gesagt hat, wir möchten bestimmte Übungen nicht mehr machen, keinen Frühsport oder auch keinen soldatischen Haarschnitt mehr tragen. Was wir erlebten war die Pulverisierung einer bisher fest zementierten Macht. Die Offiziere waren stark verunsichert, denn ihre durch Staat und Partei abgesicherte Autorität schmolz ja im Grunde wirklich über Nacht dahin. Sie wussten nicht mehr so recht, was sie noch sagen konnten, weil sie auch schon an morgen oder übermorgen gedacht haben…

wenn es eine neue Ordnung gibt….

Mau: und dass sie dann möglicherweise zur Rechenschaft gezogen werden. Das war wirklich eine, auch jetzt im Nachhinein für einen Soziologen, extrem interessante Erfahrung der Umwertung von Machtverhältnissen - und zwar wirklich innerhalb eines ganz kurzen Augenblicks.

Im Herbst des folgenden Jahres, 1990, haben Sie hier an der HU angefangen Soziologie zu studieren. Welche Rolle spielten Ihre Erfahrungen rund um den Mauerfall am 9. November für Ihre Berufswahl?

Mau: Das hat mich damals stark politisiert. Die vielen neuen Dialogforen, die es gab, und die Selbstorganisation der Bürgerinnen und Bürger der DDR bis hin zur Wahl am 18. März 1990. Es war elektrisierend, zu sehen, da ist dieses ganz festgezurrte und stagnierende Regime mit geringen Freiheitsrechten und jetzt gibt es eine Selbstermächtigung oder auch eine politische Subjektfindung der Bürgerinnen und Bürger, die plötzlich einfach die Geschicke selbst in die Hand nehmen und die vordere Reihe der Politgranden beiseiteschieben. Die Bürgerinnen und Bürger fingen an, in ihren Betrieben, in den Universitäten, in den Kultureinrichtungen, die Parteifunktionäre und die Direktorenposten freizuräumen. Sie fingen an, selber darüber zu diskutieren, wie man das jeweilige Umfeld gestalten will. Das hat mich fasziniert und ich bin auch bei vielen Veranstaltungen damals gewesen und habe mitdiskutiert - und da war Soziologie ein naheliegendes Fach.

Protestierende Studierende

Protestierende Studierende vor dem HU-Hauptgebäude
Foto: Joachim Fisahn

Wie war das, als Sie im Herbst 1990 Ihr Soziologiestudium an der HU begonnen haben?

Mau: Das Institut für Soziologie war damals noch in Friedrichsfelde, beim Tierpark, da standen zwei oder drei Baracken zwischen Plattenbauten. Als wir Anfang September 1990 ankamen wurde uns gesagt: In vier Wochen ist die deutsche Wiedervereinigung, dann gilt das Hochschulrahmengesetz der Bundesrepublik, und da fängt das Semester immer erst Mitte Oktober an. Wir wurden für sechs Wochen nach Hause geschickt und als wir zurückkamen, hieß es, es gibt keine Soziologie mehr, weil man mindestens drei Professoren braucht, um Soziologie zu lehren. Dann haben sich mehrere verwandte Disziplinen zusammengefunden und gesagt, wir lehren Sozialwissenschaften, aber darunter waren natürlich auch Professoren aus dem Marxismus-Leninismus und aus der Philosophie, das war kein rein soziologischer Studiengang mehr. Danach begann die Phase der Abwicklung und der Neuberufungen. Das zog sich hin, und da ich so lange nicht warten wollte, bin ich nach einem halben Jahr an die FU gewechselt.

Sie waren nur in dieser akuten Umbruchsphase an der HU.

Mau: Ja, aber ich habe trotzdem regelmäßig Kurse belegt an der Humboldt-Universität, weil interessante Leute kamen, die entweder Gastvorlesungen gehalten haben oder auch Neuberufende waren. Aber zu Anfang, die ersten zwei, drei Jahre, waren das natürlich die alten DDR-Professoren und das war auch interessant, weil kluge Leute dabei waren, aber die haben eigentlich mit uns fast zeitgleich das aufgesogen, was man damals in der DDR bürgerliche Soziologie nannte. Wir haben mit denen gemeinsam Lektüre-Seminare gemacht und die haben sich das genauso zum ersten Mal angeeignet wie wir als Studierende und waren uns vielleicht ein oder zwei Tage im Lesepensum voraus.

Protestierende Studierende

Protestierende im Foyer des HU-Hauptgebäudes,
Foto: Joachim Fisahn

Inwieweit hat Ihr biografischer Hintergrund auch auf die Forschungsthemen Einfluss gehabt, die Sie sich gewählt haben? Ich kann mir vorstellen, dass man an Fragen der gesellschaftlichen Ungleichheit oder gesellschaftlichen Transformationen anders herangeht mit diesen Erfahrungen im Rücken.

Mau: Ja, diese Erfahrungen sind sicherlich ein wichtiges Antriebsmoment. Ich würde sagen, für Leute meiner Herkunft ist diese biografische Erfahrung des Zusammenbruchs eines gesamten Gesellschaftsmodells und aller damit verbundenen Gewissheiten und flankierenden Ideologien schon sehr bedeutsam. Und das gilt natürlich auch für den sich daran anschließenden Transformationsprozess, der ja nicht nur ein Wimpernschlag war. Die Marktwirtschaft, die Demokratie und der Rechtsstaat waren ja nicht plötzlich da, sondern das waren zum Teil sehr konfliktreiche Übergangsprozesse.

Ich denke, mit diesem Hintergrund nimmt man nicht alles, was einem an institutionellen Strukturen begegnet, als gegeben und unhinterfragbar an, und das ist für einen Soziologen erstmal eine gute Eigenschaft und hat mich in meiner Arbeit geprägt. Ich habe immer versucht, eine kritische Haltung zu gesellschaftlichen Prozessen einzunehmen und vielleicht auch manches von dem, was sich uns als eine unhinterfragbare Normalität entgegenstellt, nochmal anders zu drehen und infrage zu stellen.

Seit vielen Monaten oder vielleicht auch schon Jahren werden Sie in Ihrer Eigenschaft als Soziologe, als Zeitzeuge und einstiger DDR-Bürger in der Öffentlichkeit als so etwas wie der „Erklärer des Ostens“ wahrgenommen. Wie fühlen Sie sich in dieser Rolle? Was bringt das mit sich?

Mau: Ich bilde mir da jetzt nichts Besonderes darauf ein, das ist so gekommen, und das hat natürlich auch mit dem Elitenmangel in Ostdeutschland zu tun. Es gibt nur wenige ostdeutsche öffentliche Intellektuelle oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die wenigen, die es gibt, die kennt man. Aber als Fachwissenschaftler bin ich auch in ganz anderen Bereichen unterwegs. Das Ostdeutschland-Thema ist nur ein Randthema meines gesamten wissenschaftlichen Oeuvres, aber natürlich eines, das viel mehr Resonanz findet als andere Forschungen, die ich mache.

Und, ja, wie fühle ich mich da? Natürlich gibt es Zuschreibungen, es gibt Überhöhungen dieser Rolle, es gibt auch Risiken, die mit dieser Rolle verbunden sind. Typisch ist, dass ich als ostdeutscher Soziologe bezeichnet werde, als der ich mich nie empfunden habe. Ich habe mich eigentlich immer nur als Soziologe gesehen, der sicherlich mit einer bestimmten biografischen Erfahrung auf ein Themenfeld schaut, aber der nicht in erster Linie als Ostdeutscher spricht, sondern eben als professioneller Soziologe.

In dem Buch „Lütten Klein“ verweben Sie Ihre persönlichen Erfahrungen als Heranwachsender in der DDR und der Transformation mit der Forschung zum Thema. Wenn Sie als Soziologe Bücher wie diese schreiben und in der Öffentlichkeit damit so präsent sind, hat das Einfluss auf die Wahrnehmung Ihrer wissenschaftlichen Leistung in der akademischen Welt?

Mau: Das müssen andere beurteilen, das kann man selber nicht sagen. Ich weiß nicht, was meine Kolleginnen und Kollegen hinter meinem Rücken sagen, aber ich bekomme hin und wieder Feedback von Leuten, die sehr dankbar sind, dass ich auch eine öffentliche Rolle einnehme und so kommuniziere wie ich kommuniziere. Ich versuche auch keine Meinungsschleuder zu sein, also jemand, der sich zu allem äußert – obwohl die Verführung immer da ist, weil man auch zu allen möglichen Themen angefragt wird.

Ich weiß nicht, ob es möglich gewesen wäre, so ein Buch 15 oder 20 Jahre früher zu schreiben, zu Beginn meiner Karriere. Ich habe das gemacht, als ich schon relativ arriviert war und eine bestimmte fachliche Anerkennung hatte. Ich glaube, dass die vorhandene Anerkennung meiner Arbeit in der Wissenschaftscommunity es mir erlaubte, anders zu kommunizieren, auch anders öffentlich Themen zu setzen. Das ist eine Freiheit, die ich mir letzten Endes auch erarbeitet habe.

Im angelsächsischen Raum wäre das wahrscheinlich nicht so problematisch.

Mau: Ja, da wäre das weniger ein Problem. Da, so denke ich, würde das auch zu mehr Anerkennung führen. Aber ich habe schon das Gefühl, dass es Interesse an solcher Art von Wissenschaftskommunikation oder überhaupt am Buch in den Sozialwissenschaften gibt. Jedenfalls merke ich das beim wissenschaftlichen Nachwuchs. Viele Leute sehen das durchaus als Ermutigung, auch mal ihre eigene, sehr spezifische Forschungsperspektive oder ihre Ergebnisse zu übersetzen in ein anderes Publikationsformat, zum Beispiel in ein Buch, das einen öffentlichen Diskurs mitbestimmen kann. Es ist ein Signal, dass man so etwas machen kann und zwar erfolgreich machen kann, ohne sich als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zu kompromittieren. Wenn ich da eine Vorbildfunktion hätte, also über meine Forschung hinaus auch noch eine Art von Wirkung entfalte im Hinblick auf den wissenschaftlichen Nachwuchs, dann würde mich das sehr freuen.

Die Fragen stellte Kristina Vaillant