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„Ich wollte hinter die Kulissen schauen“

Mit „Freiräume“ fördert die HU den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Gesa Stedman ist eine der Geförderten / Bewerbungsfrist für neue Ausschreibung ist der 1. November 2021

Auch heute noch wird in den Medien manchmal der Elfenbeinturm als Metapher für die Arbeit von Forschenden bemüht. Dabei gehört dieses Bild der Vergangenheit an: Denn neben den klassischen Kernaufgaben Forschung und Lehre gehören mittlerweile auch der Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, die Third Mission, zum akademischen Alltag. 

Hierbei geht es darum, die eigene Forschung und Lehre mit nicht-akademischen Akteur:innen aus Gesellschaft, Politik und Kultur zu diskutieren und zu reflektieren. Die Humboldt-Universität unterstützt Forschende mit der Förderlinie „Open Humboldt Freiräume“. Wissenschaftler:innen der HU können ihr Lehrdeputat ein Semester lang auf null reduzieren. Das verschafft ihnen Zeit für den Dialog mit der Gesellschaft, für Knowledge Exchange und Wissenschaftskommunikation. Im Sommersemester 2021 wurde unter anderem die Kulturwissenschaftlerin Gesa Stedman gefördert. 

In den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war die Strahlkraft Berlins so groß, dass sie die von Paris und London überragte. Britische Intellektuelle und Kreative verließen die Enge ihrer Heimat für die Hauptstadt des Deutschen Reichs. Sie waren fasziniert von der Freizügigkeit in den Cabarets, Bars und Varietés und strömten in die Avantgarde-Filmsäle und Theater. Schriftsteller:innen ließen sich von der anregenden, wilden Stadt inspirieren und reflektierten sie in Romanen, Briefen oder Tagebüchern. 

In ihrem Projekt „Happy in Berlin? English Writers in the City, the 1920s and Beyond“ erforschten Gesa Stedman vom Großbritannien-Zentrum der HU und ihr Kollege Stefano Evangelista aus Oxford diesen „Mythos Berlin“ aus der Perspektive britischer Autor:innen. In der Pandemie nahmen sie die Öffentlichkeit mit auf einen Ausflug in das rauschhafte Berlin der Weimarer Republik: Eine Ausstellung an drei Standorten mit Katalog, eine Website, eine Veranstaltungsreihe, Podcasts und Events für Schüler:innen hat die Professorin für Britische Kultur und Literatur auf die Beine gestellt. Auch, um die Strahlkraft ihrer Forschung zu vergrößern.

Dabei wurde sie von der neuen Förderlinie „Open Humboldt Freiräume“ der HU unterstützt. Freiräume stellt Professor:innen, Postdocs, Promovierende und angestellte habilitierte wissenschaftliche Mitarbeiteri:nnen für ein Semester von ihrer Lehrverpflichtung frei, damit sie Projekte gemeinsam mit Akteur:innen aus der Gesellschaft realisieren können. 

In ihrem Projekt hat Stedman hinterfragt, wie der „Mythos Berlin" entstanden ist. Begründet haben ihn das Dreigestirn Christopher Isherwood, W.H. Auden und Stephen Spender. Ihrem Ruf folgten andere Autor:innen, H.G. Wells etwa, Virginia Woolf, Arthur Symons oder die Aristokratin Evelyn Blücher. „In dieser Zeit gab es aber auch andere Figuren, wie etwa den Nazi-Sympathisanten Wyndham Lewis oder Francis Stuart, der an der Friedrich-Wilhelms-Universität gelehrt hat, der heutigen HU“, erklärt Stedman. „Ich wollte hinter die Kulissen schauen, um zu sehen, was es da sonst noch gab.“ Dabei konnte sie viele spannende Dokumente entdecken und nicht zuletzt Autorinnen, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind. „Nach dem Brexit haben sich wiederum viele englischsprachige Autor:innen Berlin als Exilort ausgesucht. In deren Werken kann man den Wiederhall des alten Mythos finden.“

Gesa Stedman sagt, sie wisse, wie viel Zeit Wissenschaftskommunikation als multidirektionaler Prozess kostet, wenn man sie nebenbei machen müsse. „Wenn man, wie ich, in einem kleinen, aber sehr vielfältig aktiven Institut arbeitet, wenn man Kinder hat, wenn man daran nur an den Wochenenden, in Nachtschichten und Urlauben arbeiten kann. Das hält man einfach nicht lange durch“, sagt sie. „Mal ein Semester gar nichts anderes machen zu dürfen, als zu überlegen, was die Leute interessieren könnte und wie wir das kommunizieren, das war eine wahre Freude. Das Feedback auf die Arbeit war insgesamt sehr positiv und das motiviert ungemein“, sagt Stedman. Sie hofft, dass auch andere Forscher:innen sich für die neue Förderlinie bewerben.

Vier Wissenschaflter:innen wurden im Sommersemester gefördert. Isabel Dziobek, Professorin an der Berlin School of Mind and Brain und am Institut für Psychologie, hat einen Kreis für Partizipative Forschung eingerichtet. Patient:innen mit psychischen Erkrankungen können so eigene Ideen und Feedback zur Wissenschaft beisteuern und auf direktem Weg von neuen Forschungsergebnissen erfahren. Auch die Soziologin und Stadtforscherin Talja Blokland und der Erziehungswissenschaftler Steven Beyer wurden für die Förderlinie ausgewählt.

Dank eines früheren ähnlichen Förderprogramms konnte Martin Witte in diesem Jahr einen fast 700-seitigen Kommentar zum Hiobbuch vorlegen. Der Dekan der Theologischen Fakultät und Professor für Theologie und Literaturgeschichte des Alten Testaments hat die Entstehung und Rezeption des Buches Hiob untersucht und dazu seine theologischen, anthropologischen und mythologischen Grundlagen beleuchtet. Witte freut sich über die „großartigen Möglichkeiten, die ihm die HU mit dieser Förderlinie eröffnet hat“.

Gesa Stedman will sich auch nach dem Ende ihrer Förderung darum kümmern, ihre Forschung weiterhin mit der Gesellschaft zu diskutieren. „Unsere Gesellschaft braucht Reflexion und Analyse dessen, was passiert ist und dessen, was jetzt passiert“, sagt sie. „Und zwar von denen, die darüber forschen und Bescheid wissen, sonst ist unsere Gesellschaft hilflos.“ Ein prägnantes Beispiel sei die Corona-Krise. „Die Epidemiologen haben das kommen sehen, nicht aber die anderen Akteure. Deswegen müssen Wissenschaftler:innen der Gesellschaft eine Vielfalt an Stimmen zur eigenen Orientierung und zu Reflexionsmöglichkeiten anbieten.“ Durch diesen Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft könnten alle nur gewinnen. „Die Gesellschaft bekommt etwas zurück, die Geldgeber sehen die Leistung der Wissenschaftler:innen, und die Forscher:innen verlieren nicht den Kontakt zur Öffentlichkeit.“

Autorin: Vera Görgen

 

Neue Ausschreibung für das Sommersemester 2022 oder das Wintersemester 2022/23

Mit der Förderlinie können Professor:innen, wissenschaftliche Mitarbeiter:innen (Postdocs, Promovierende und angestellte habilitierte wissenschaftliche Mitarbeiterinnen) aller Fachrichtungen an der HU die Reduzierung ihrer Lehrverpflichtung auf 0 SWS für ein Semester beantragen. Die Förderung beinhaltet die Lehrvertretung durch eine Vertretungsprofessur bzw. Anstellung einer Lehrvertretung als wissenschaftlicher Mitarbeiter:in für die Dauer des SoSe 2022 oder WS 2022/23.

Bewerbungsfrist ist der 1. November 2021, 12 Uhr

Zur Förderlinie und das Antragsformular auf der Webseite der Ausschreibung.