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Gesellschaftlicher Zusammenhalt: „Die Rolle der Zivilgesellschaft ist ambivalent“

Interview mit Psychologie-Professorin Jule Specht

 

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Die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, engl. Social Cohesion, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Aktuell stellen die Coronavirus-Pandemie und der Krieg in der Ukraine mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen eine besondere Herausforderung für das Zusammenleben dar: Rasche und grundlegende gesellschaftliche Veränderungen verunsichern viele Menschen und polarisieren. Jule Specht, Persönlichkeitspsychologin an der Humboldt-Universität befasst sich mit der Rolle der Zivilgesellschaft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie leitet das Projekt „Social Cohesion and Civil Society. Interaction Dynamics in Times of Disruption“ in der Berlin University Alliance. Wie tragen zivilgesellschaftliche Akteur:innen dazu bei, dass die Menschen in einer Gesellschaft füreinander eintreten und solidarisch sind? Im Interview erklärt Specht, in welcher Rolle die Zivilgesellschaft zum gesellschaftlichen Zusammenhalt steht, welche Entwicklungen in der Zivilgesellschaft derzeit zu erkennen sind und wozu ihre Forschungsergebnisse dienen können.

Warum ist gesellschaftlicher Zusammenhalt gerade heute so wichtig?

Wir leben in turbulenten, in disruptiven Zeiten. Eine Vielzahl von Konflikten polarisiert unsere Gesellschaft, was den Zusammenhalt gefährden kann: darunter der Umgang mit der Corona-Pandemie, Fragen zum Klimaschutz und zu sozialer Gerechtigkeit. Mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine kommen auch bei uns neue Konflikte hinzu, in der Energie-, Verteidigungs- und Migrationspolitik ebenso wie zu Verteilungsfragen, also wer in der Gesellschaft welche Kosten einer Krise tragen soll.

Welche Rolle spielt dabei die Zivilgesellschaft?

Bei all diesen Konflikten spielt die Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle. Denn über Initiativen und soziale Bewegungen werden diese Konflikte sichtbar. Sie sind einerseits Treiber der Konflikte, setzen kontroverse Themen und erzeugen damit Spannungen, was unseren Zusammenhalt gefährden kann. Andererseits kann die Zivilgesellschaft den Zusammenhalt aber auch stärken: Sie ermöglicht Solidarität und Partizipation am gesellschaftlichen Fortschritt, sie bringt Menschen zusammen, die gemeinsame Ziele verfolgen und ist damit auch ein Kitt, der Teile der Gesellschaft zusammenhält. Die Rolle der Zivilgesellschaft ist also ambivalent: Sie bringt Menschen zusammen und stärkt damit den Zusammenhalt. Zugleich aber verstärkt sie Konflikte und kann die Gesellschaft spalten.

Was untersuchen Sie in Ihrem Projekt und was konnten Sie herausfinden?

Unser Projektverbund gliedert sich in vier inhaltliche Schwerpunktbereiche: Zum einen erstellen wir einen umfassenden Überblick über zivilgesellschaftliche Initiativen, wobei wir nicht nur klassische, formale Initiativen – zum Beispiel eingetragene Vereine – berücksichtigen, sondern auch informelle Initiativen, die immer mehr an Bedeutung gewinnen. Außerdem untersuchen wir Diskurse in der Zivilgesellschaft, um zu verstehen, wie sich Akteur:innen der Zivilgesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern und Anhänger:innen, der Öffentlichkeit und anderen Akteur:innen der Zivilgesellschaft verhalten. So konnten wir zum Beispiel herausarbeiten, wie sich Initiativen darin unterscheiden, welche Personen sie bei ihrem Engagement explizit ein- oder auch ausschließen. Darüber hinaus interessieren uns diejenigen, die selbst als Aktivist:innen engagiert sind: Was zeichnet sie aus, was motiviert sie, haben sie das Gefühl, mit ihrem Engagement etwas bewirken zu können? Und schließlich untersuchen wir, wie Menschen in der Zivilgesellschaft miteinander interagieren: Wie werden zum Beispiel polarisierende Themen zwischen zwei Personen verhandelt, wie werden politische Konflikte zwischen Bürger:innen mit unterschiedlicher Meinung ausgetragen und unter welchen Umständen gelingt das besonders konstruktiv?

Bedeutet ein starker gesellschaftlicher Zusammenhalt, dass es weniger Konflikte in der Gesellschaft gibt?

Nein, aus meiner Sicht nicht, denn es geht weniger um die Anzahl der Konflikte als um den Umgang damit. Eine Gesellschaft ist immer divers, besteht also aus unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Interessen. Das wird immer wieder zu Konflikten führen und in einer gesunden Gesellschaft können diese Konflikte auch konstruktiv adressiert werden.

Ein Indiz für fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt ist für mich, wenn Konflikte nicht öffentlich ausgetragen werden können – also unterdrückt werden und scheinbar nicht existieren – oder wenn Konflikte in unversöhnlicher, destruktiver Weise geführt werden, wie man es im Falle ausgeprägter Polarisierung und im Extremfall bei Bürgerkriegen beobachten kann.

Man muss allerdings dazu sagen, dass der Begriff des „gesellschaftlichen Zusammenhalts“ im öffentlichen Diskurs sehr unterschiedlich verwendet wird, auch in der Wissenschaft liegen dafür verschiedene Definitionen vor, insofern beziehe ich mich hier auf ein Verständnis von Zusammenhalt, das nicht gleichzusetzen ist mit „Einstimmigkeit“ oder „Harmonie“, sondern es eher als Ressource einer Gesellschaft versteht, gemeinsam konstruktiv mit Herausforderungen umgehen zu können.

Wofür können die Forschungsergebnisse konkret nützen?

Gerade in Krisenzeiten ist die Zivilgesellschaft von zentraler Bedeutung – denken Sie nur an die vielen Nachbarschaftsinitiativen während der Corona-Pandemie. Gleichzeitig stellten unter anderem die Kontaktbeschränkungen viele zivilgesellschaftliche Initiativen vor große Herausforderungen, von denen sich einige Initiativen noch nicht erholt haben und es vielleicht auch nicht mehr werden. Wir befassen uns daher damit, wie die Zivilgesellschaft gezielt gestärkt werden kann.

In den letzten Jahren ging der Trend hin zu mehr informellen Zusammenschlüssen, die es ermöglichen, schnell und flexibel auf neue Situationen zu reagieren. Diese unterliegen anderen Prozessen der Entstehung und Aufrechterhaltung, ziehen andere Menschen an und gehen mit anderen Kommunikationsformen einher. Wir leisten einen Beitrag dazu, zu verstehen, wie diese informellen Formen der Zivilgesellschaft sich von anderen Formen unterscheiden, ob sie Polarisierungen befördern oder auch ein Ergebnis davon sind. Mit diesem Verständnis können Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft frühzeitig erkannt werden, die zu einer ausgeprägten Polarisierung führen können.

Das Projekt widmet sich den Interaktionen zivilgesellschaftlicher Akteur:innen. Werden diese Akteur:innen in die Forschung einbezogen? Wie sieht diese Beteiligung aus, und was erhoffen Sie sich davon?

Wir arbeiten mit diversen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen in Berlin und darüber hinaus zusammen. Das ist auch insofern selbstverständlich, als wir natürlich auch die Wahrnehmung der Aktivist:innen selbst berücksichtigen wollen und müssen, um zu einem umfassenden Verständnis von der Rolle der Zivilgesellschaft für den Zusammenhalt zu kommen. Interessant fand ich zum Beispiel, dass sich viele zivilgesellschaftliche Akteur:innen, mit denen wir zusammenarbeiten, auch aktiv damit auseinandersetzen, wie sie den Zusammenhalt innerhalb ihrer oftmals sehr heterogenen Mitgliederschaft stärken können. Insofern spielt Zusammenhalt nicht nur auf der Ebene der Gesellschaft eine wichtige Rolle, sondern natürlich auch in größeren und kleineren Zusammenschlüssen innerhalb der Gesellschaft.

Ihr Forschungsteam ist interdisziplinär: Im Projekt arbeiten Wissenschaftler:innen aus den Sozial-, Geistes-, Human- und Naturwissenschaften zusammen. Inwieweit ist das etwas Besonderes?

Wir haben das Glück, Kolleg:innen aus Psychologie und Soziologie, Politik- und Kommunikationswissenschaft, Philosophie und Informatik zusammenbringen zu können. Das ist etwas Besonderes, da wir an den Universitäten häufig an fachspezifischen Instituten arbeiten, unsere Projektgelder oftmals für fachspezifische Fragestellungen erhalten und dadurch eine solche disziplinenspezifische Expertise entwickeln, dass es manchmal gar nicht so einfach ist, über die eigenen Fächergrenzen hinaus zu schauen. Das ist aber notwendig, um anwendungsnahe Forschung zu komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen zu ermöglichen.

Was kann eine Informatikerin oder ein Politikwissenschaftler zum Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt beitragen?

Die Informatik trägt in unserem Forschungsverbund zum Beispiel Expertise zu Interaktionsdynamiken bei, die dort in Menschen-Maschine-Interaktionen untersucht wird. Wir bauen darauf auf, wenn wir in digitalen Umgebungen beobachten, wie sich Menschen über politische Streitthemen austauschen. Die Politikwissenschaft trägt unter anderem ihre Expertise zu gesellschaftlichen Konfliktlinien bei, entlang derer viele zivilgesellschaftliche Initiativen entstehen. Das heißt: Jede beteiligte Disziplin steuert theoretische und/oder methodische Expertise bei, die es uns letztendlich erlaubt, wissenschaftlich fundierte Handlungsoptionen zu entwickeln, die wir dann wiederum mit unseren transdisziplinären Partner:innen auf ihre Praxistauglichkeit hin überprüfen.

Die Fragen stellte Ina Friebe.